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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Brahms.
    Jonah und Lisette streiten sich, ob er sich für Opernrollen bewerben soll. Das Versicherungsgeld unserer Mutter, das zusammen mit den spärlichen Konzertgagen für Unterhalt und Miete sorgt, ist fast aufgebraucht. Jonah hat genug von deutschen Liedern aus dem neunzehnten Jahrhundert.
    »Noch nicht, caro. Nicht mehr lange. Jetzt hast du die perfekte Liederstimme.«
    »Aber sie wird voller, sonorer. Das sagst du doch selbst.«
    »Du hast dein Publikum da draußen. Du bekommst gute Kritiken.
    Lass dir doch Zeit. Genieß es. Man kann sein Leben nur einmal beginnen.«
    »Meine Stimme steht in voller Blüte.«
    »Und sie wird noch dreißig Jahre weiterblühen, wenn du gut darauf aufpasst. Du bist fast so weit.«
    »Ich bin jetzt so weit. Ich will weiterkommen. Ich gehe zum Vorsingen, egal wo. Irgend eine kleine Bühnenrolle bekomme ich doch allemal.«
    »Du sollst aber nicht ›irgend eine‹ singen. Nicht, solange ich deine Lehrerin bin. Wenn du dein Debüt gibst, dann machst du es anständig.«
    »Du hast Angst, dass ich zu gut werde, was?«
    »Jonie, du bist zu gut. Bleib in der Gegenwart.«
    Er ist wütend, aber er hört doch auf sie. Er traut dieser Frau, nach allem was er mit ihr erlebt hat. »Sie ist meine einzige echte Freundin«, sagt er zu mir.
    »Ah ja«, sage ich.
    Wir zwei, ständig in Bewegung, vorgeführt in Sälen voller Menschen, sind jeder ihrer Launen ausgeliefert. Jonahs alte Juilliard-Kumpel – diejenigen, die in der Stadt geblieben sind und nicht im Schuldienst oder als Versicherungsvertreter endeten – wollen ihn zu einem Wiedersehen bei Sammy bewegen. Brian O'Malley, der jetzt im Opernchor des City Center singt, führt nach wie vor den Vorsitz. Jonah ist der Einzige von ihnen, der noch ein Los für die Lotterie zum Ruhm in der Tasche hat. Aber auch in ihm spüren sie die Verwandlung, die Verfinsterung. Sonst haben wir niemanden, der uns nahe ist, Pa und Ruth ausgenommen, nur Säle voller fremder Menschen, die uns bewundern. Wenn das Telefon klingelt, ist es immer entweder Mr. Weisman oder Lisette Soer.
    Gewiss, es kommt vor, dass wir Fremde kennen lernen. Lisette schleppt uns zu Partys – ungeheuer kultivierten Veranstaltungen, wo in gesellschaftlichen Galaxien ganze Planetensysteme umeinander kreisen, vom Mittelpunkt, wo alles um die Sonne des Tages seine Bahnen zieht, bis zu den fernsten, eisigen Asteroiden. Jonah und ich finden in der Regel unseren Platz irgendwo zwischen Neptun und Pluto. Einmal spricht ein Gast uns in gebrochenem Spanisch an, hält uns für arrivierte Puertoricaner.
    Wir ziehen uns eben für eine dieser sinnlosen Partys an, einen Empfang für The Ballad of Baby Doe, und mit einem Male wird es mir zu viel. »Verdammt, Jonah, was wollen wir denn schon wieder bei so was? Drei Stunden mindestens. Drei Stunden, in denen wir etwas Neues proben könnten.«                                                                 
    »Durch so was bekommt man Auftritte, Muli.«
    »Auftritte geben uns Leute, die uns singen hören.«
    »Alle einflussreichen Leute der Musikszene tummeln sich auf diesen Partys.« Das hätte von Lisette stammen können. »Die müssen uns aus der Nähe sehen.«
    »Warum?«
    »Damit sie begreifen, dass wir keine Wilden sind. Sie haben doch Angst, dass wir uns von hinten an die westliche Kultur ranschleichen und dann – peng.«
    »Aber ich sehe aus der Nähe ein gutes Stück schwärzer aus.« Mein Bruder hat schon seine dunkle Jacke an und bindet die Krawatte. Er streicht die Revers glatt und inspiziert sich im Spiegel, bann kommt er herübergeschwebt, so nahe heran, dass sein Gesicht nur Zentimeter über dem meinen steht. Er sieht mich eindringlich an, mustert das Problem. »Ha! Wer hätte das gedacht? Wieso hast du mir das nie gesagt, Joey?«
    »Du hast eine Menge Vertrauen in Leute, die oft genug bewiesen haben, dass sie keines verdienen.«
    »Aber, aber, Bruder. Wir machen ihnen Mut. Wir stärken ihre Moral Wir sind die neue Mode.«
    »Ich will nicht die neue Mode sein, Jonah.« Er wirft den Kopf in den Nacken. »Was willst du dann?« »Ich will einfach nur die Musik spielen, die ich spielen kann.« »Jetzt komm schon, Joey.« Er nimmt mir die schmale Krawatte aus der Hand, legt sie mir um den Hals und schlingt den Knoten. »Wir sagen einfach, du bist mein Chauffeur oder so was.«
    Bei einer solchen Zusammenkunft, Ende Juni, stehe ich in einer Ecke, lächle unverbindlich, zähle die

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