Der Klang der Zeit
dass ein kleiner Negerjunge in ihrer Kirche Bach singt. Er sieht seine eigene Tochter, heute in zehn Jahren, die Tochter, die er gerade verloren hat. Sieht diese vier toten Mädchen: Denise, Cynthia, Carole und Addie Mae.
Sieben Bombenanschläge in sechs Monaten. In den Straßen von Birmingham tobt eine blutige Schlacht; so etwas exportieren die Vereinigten Staaten sonst nur ins Ausland. Reverend Connie Lynch, ein prominentes Mitglied des Ku-Klux-Klan, verkündet lauthals: »Wenn es heute Abend vier Nigger weniger gibt, dann sage ich: ›Gut gemacht, wer immer die Bombe gelegt hat!‹« Zwei weitere schwarze Kinder kommen ums Leben: Ein Dreizehnjähriger wird von zwei Pfadfindern erschossen, ein Polizist tötet einen Sechzehnjährigen.
Das Land, in dem ich gelebt habe, ist tot. Der Präsident spricht von Recht und Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden. Er ruft Weiße und Schwarze auf, Leidenschaften und Vorurteile beiseite zu lassen. Zwei Monate später ist auch er tot. Malcolm sagt: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
Lisette Soer ruft meinen Bruder an, aber ich bin am Apparat. Sie will wissen, warum er drei Gesangstunden versäumt hat. Sie will, dass er sie zurückruft. Beim ersten Mal sage ich ihr, Jonah habe eine Virusinfektion. Sie schickt ihm Gänseblümchen. Beim zweiten Anruf sage ich ihr, er ist in Europa und wird vorerst nicht wiederkommen. Mein Bruder sitzt nur drei Meter entfernt; er ist kaum in der Lage zu nicken. Miss Soer hört meine Auskunft mit sprachlosem Zorn. Lisa Sawyer, die Bierbrauer-tochter aus Milwaukee, nennt mich einen verlogenen Affen.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sage ich. Aber mittlerweile weiß dieser Affe das ziemlich genau.
AUGUST 1963
Sie versammeln sich am Fuß des Washington-Monuments. Menschen strömen von überall herbei, wo immer es Hoffnung auf eine bessere Zukunft in diesem Land gibt. Sie kommen in klapprigen Lastwagen, direkt von den Feldern in Georgia. Sie rollen in Bussen – hundert pro Stunde – durch den Baltimore-Tunnel. Sie kommen in langen silbernen Wagons aus den Vorstädten der Nachbarstaaten, in zwei Dutzend Sonderzügen aus Pittsburgh und Detroit. Sie landen mit Flugzeugen aus Los Angeles, Phoenix und Dallas. Ein zweiundachtzigjähriger Mann kommt mit dem Fahrrad aus Ohio; ein anderer – halb so alt wie er – aus South Dakota. Ein Mann braucht eine ganze Woche, um die achthundert Meilen von Chicago auf Rollschuhen zurückzulegen, geschmückt mit einer leuchtend roten Schärpe, auf der das Wort FREEDOM prangt.
Um elf Uhr morgens sind es schon mehr als eine Viertelmillion: Studenten, kleine Geschäftsleute, Prediger, Ärzte, Friseure, Verkäufer, Gewerkschaftsvertreter, angehende Manager, Intellektuelle aus New York, Farmer aus Kansas, Krabbenfischer aus dem Süden. Eine »VIP-Ma-schine« bringt eine Ladung Filmstars – Harry Belafonte, James Garner, Diahann Carroll, Marlon Brando. Erfahrene Freedom Riders, kampfer-probte Veteranen aus Birmingham, Montgomery und Albany stehen Seite an Seite mit frisch gebackenen Bürgerrechtlern, Menschen, die sich nach einem anderen Staat sehnen und bis heute nicht wussten, was sie dazu beitragen können. Sie schieben Kinderwagen und Rollstühle, schwenken Fahnen und Spruchbänder. Sie kommen direkt aus Vor-standssitzungen und frisch aus dem Gefängnis. Sie kommen aus einer Viertelmillion Gründen. Und haben doch alle dasselbe Ziel.
Der Marsch führt vom Washington-Obelisken zu den Stufen des Lincolndenkmals, aber wie üblich auf einem längeren Weg. Irgendwo in der Constitution Avenue gibt es Arbeit; irgendwo in der Independence Avenue lockt die Freiheit. Selbst diese gewundene Route ist das Ergebnis eines wackligen Kompromisses. Sechs verschiedene Gruppen begraben ihre Meinungsverschiedenheiten und marschieren mit vereinten Kräften, wenn auch nur auf dieser letzten Etappe.
In der Nacht davor unterzeichnet der Präsident den Befehl zur Mobilisierung der Armee, für den Fall dass es Unruhen gibt. Am frühen Morgen überspülen die Menschenfluten alle Dämme, die die viel zu schwachen Polizeikräfte errichten. Der Protestzug setzt sich von ganz allein in Bewegung, ungeführt; die Anführer müssen nachträglich von Ordnern in den unaufhaltsamen Strom eingeschleust werden. Es gibt Agitation, Streikposten, eine vierundzwanzigstündige Mahnwache vor dem Justizministerium. Aber trotz vier Jahrhunderten der Gewalt fließt an diesem Tag nicht ein einziger Tropfen Blut.
Die Fernsehkameras auf der
Weitere Kostenlose Bücher