Der Klang der Zeit
je begegnen wird, der den Platz in seiner Welt verloren und in der neuen keinen gefunden hatte, den Mann, der eine Musik liebt, die keine Heimat hatte, in einem Probenraum über den Tisch gebeugt, vertieft in das Komponieren von Orchestersuiten, von denen er genau wusste, dass jede Versammlung von Menschen, denen er sie zeigte, ganz egal welche, sie verspotten würde. Und er zeigte sie mir. Der Mann, der mir das Versprechen abgenommen hatte, die Musik aufzuschreiben, die ich in mir hatte. Und noch immer hatte ich keine einzige Note aufgeschrieben –was exakt dem entsprach, was ich in meinem Inneren spürte.
In jedem neu gefassten spanischen Melodiefetzen höre ich es: Ich habe meinen Freund verraten. Ich weiß nicht warum. Seit unserem Abschied damals habe ich ihn nicht mehr gesehen, habe nie versucht, Kontakt zu halten, und ich weiß auch, dass ich es nie tun werde, auch nicht am heutigen Abend, wo ich nach Hause gehen und in Gedanken ganz bei ihm sein werde. Ich weiß nicht warum. Ich weiß genau warum. Schon gut, Bruder Joe. Ein jeglicher diene Gott auf seine Weise. Und meine Weise ist eben diese: Liederabende in Hartford und Pittsburgh, Kostümpartys an der Upper East Side mit der Elite des Musikbetriebs. Meine Hand mit der Plattenhülle zittert. Andalusien strömt aus diesen Lautsprechern, auf dem Umweg über East St. Louis, die Trompete hat diese Melodie zur ihren gemacht, und ich kann nichts weiter tun, als schluchzend hier zu stehen und den Kopf zu schütteln. »Schon gut«, sage ich zu dem Grünen, und sein Zorn wandelt sich in Furcht. »Tolle Musik. Kein Gaul auf der Welt, der ein Vollblut ist.«
Wir treffen uns mit Pa und Ruth mindestens einmal die Woche, zum Freitagsessen in Morningside Heights, es sei denn, wir sind auf Konzertreise. Ruth wächst rasch heran, unter der Obhut unseres Vaters und seiner fünfzigjährigen Haushälterin Mrs. Samuels, mit der Ruth jetzt auf ständigem Kriegsfuß lebt. Sie hat ein ganzes Rudel von Freundinnen, die ich nicht auseinander halten kann. Sie versuchen vergeblich, ihre widerborstigen Haare zu großen Wellen zu zwingen, und stecken sich in glänzende vinylschwarze Kleider, die Mrs. Samuels »kriminell« nennt.
Ruth ist fest entschlossen: Sie will im Herbst aufs College gehen und an der New York University Geschichte studieren. »Geschichte?«, fragt Jonah verblüfft. »Wozu soll das denn nütze sein?«
»Es kann eben nicht jeder so nützlich sein wie du, Jonah«, verkündet sie mit ihrer besten Radioansagerstimme.
Eines Abends lernen wir ihre besten Freundinnen kennen. Sie wollen mit Ruth ins Kino gehen, drei Mädchen in Schwarz. Neben der hellsten von ihnen wirkt Ruth fast wie eine Lateinamerikanerin. Sie können das Lachen kaum unterdrücken, als sie Jonah und mich sehen, und kaum hat Ruth mit ihnen die Wohnung verlassen und die Tür hinter sich zugezogen, prusten sie los. Obwohl Pa es nicht gern sieht, freundet Ruth sich immer enger mit ihnen an; die Unternehmungen am Wochenende werden zur festen Einrichtung, und wenn Jonah und ich freitags zum Essen kommen, treffen wir sie nur noch selten. Im diesem ganzen Sommer ist die Familie nur dreimal vollzählig versammelt. Aber Anfang August sitzen wir alle vier mit Mrs. Samuels zusammen beim Essen, als Pa plötzlich verkündet: »Wir fahren nach Washington!«
Jonah spießt die Latkes mit der Messerspitze auf. »Was willst du damit sagen, Pa? Wer ist ›wir‹?«
»Na wir. Wir alle. Die ganze Familie. Alle zusammen.«
»Ist ja interessant.«
»Was gibt es in Washington?«, will ich wissen.
»Jede Menge weißen Marmor«, antwortet Ruth.
»Es soll eine große Protestveranstaltung stattfinden.«
Jonah und ich zucken die Achseln. Mrs. Samuel schnalzt ungläubig mit der Zunge. »Habt ihr denn gar nichts über den Protestmarsch gehört? Wo seid ihr bloß die ganze Zeit gewesen?«
Wie sich herausstellt, wissen alle Bescheid, nur wir nicht. »Meine Güte. Die ganze Stadt ist voll mit Flugblättern!« Ruthie zeigt uns einen kleinen Metallbutton, der sie fünfundzwanzig Cent gekostet hat – eine Spende für das geplante Vorhaben. Sie hat für jeden von uns einen gekauft. Ich stecke meinen an. Jonah spielt mit seinem wie mit einer Münze.
Pa hält alle zehn Finger in die Höhe. »Hundert Jahre Sklavenbefreiung.«
»Bei der natürlich niemand befreit wurde«, ergänzt unsere Schwester. Pa senkt den Blick.
Jonah hebt die Brauen und sieht sich um. »Vielleicht könnte mal jemand so freundlich sein und ...«
Ruthie
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