Der Klang der Zeit
dieses Lebens, die sie allesamt zu Gefangenen gemacht hat. Delias Mutter lässt ihr wahres Wesen sehen, so wie sie sich noch in keiner Kirche offenbart hat, geht ganz zurück bis zum Anfang, und selbst da ist dieser Tod schon da.
Und schon liegt sie Delia an der Brust, hilflos breitet die Tochter die Arme, um sie zu trösten. Eine entsetzliche Umkehr, ein Richtungswechsel der gesamten Natur. Auf ein Mal ist sie die Mutter ihrer Mutter. Ihre jüngeren Geschwister sehen die Wandlung, starr vor Schrecken. Selbst Williams Antlitz fleht die Tochter an, ungeschehen zu machen, was geschehen ist. Ihre ganze Familie blickt erwartungsvoll auf Delia, bis sie begreift. Sie betrauern auch den Tod, der noch gar nicht geschehen ist, zusammen mit dem, den sie kennen. Fünf Gesichter bitten Delia, umzukehren, was sie in Gang gesetzt hat. Ihre Mutter ringt in ihren Armen nach Atem. Die englische Sprache kehrt zurück, doch ungelenk und leise, ringt nach Worten, verflucht die Muttersprache. »Warum ist der Junge gestorben? Wollen sie denn nie etwas anderes von uns als den Tod?«
Dr. Daley bedeckt sein Gesicht mit seiner mächtigen Faust. Seine Kinder versammeln sich um ihn, und er blickt auf, grausam entblößt. Er findet einen Trotz in sich, der als Ersatz für Würde genügen muss. Er steht auf und geht nach draußen. »Daddy!«, ruft Delia. »Daddy?« Aber er kehrt nicht um.
Die Hintertür fällt ins Schloss, die Haustür öffnet sich. David und ihr Jüngster, ihre zweite Entschädigung, kehren zurück. Ihre Mutter fragt noch einmal: »Nenn mir einen Grund. Nur einen einzigen.«
David betrachtet die Ruinen, die einmal eine Familie waren. Und Joseph auch: Das ernste Kind lässt den Blick vom einen zum anderen wandern, starrt alle an. Delia sieht dem Gesicht ihres Mannes an, wie eine Erkenntnis in ihm Gestalt annimmt, der Ausdruck, der jede wache Minute ihres Lebens auf ihren eigenen Zügen stehen muss. Du gehörst hier nicht hin. Du bist hier nicht willkommen. Er sieht sie an. Wartet auf den kleinsten Hinweis, was er tun soll. Sie blickt auf, blickt zur Hintertür. Dieser farblose Mann, dieser Mann, den sie, sie weiß nicht mehr warum, geheiratet hat, dieser Mann, der nichts in diesem Haus begreifen kann, begreift sie. Er lässt das Kind bei den Zwillingen und schlüpft nach draußen, durch die Tür, durch die ihr Vater gegangen ist. Delia möchte ihn zurückrufen, aber sie zwingt sich, es nicht zu tun.
Sie summt beschwichtigende Laute für ihre Mutter, wiegt deren Kopf, als wären all die Jahre, in denen sie solchen Trost von ihr empfing, nur Vorbereitungen für den Tag gewesen, an dem sie selbst die Trösterin sein würde. Sie schweigt, spricht mit dem alten, verleugneten Akzent, der doch so leicht zurückkehrt. Sie spricht zu ihrer Mutter vom Paradies, von Mut und anderen Dummheiten, von Plänen so groß, dass kein menschliches Hirn sie begreifen kann. Aber in Gedanken ist sie bei den beiden Männern. Bei der ersten Gelegenheit gibt sie Lorene Zeichen, sie solle hinausgehen und nachsehen. Die kleine Schwester kommt zurück und nickt. Delia legt die Stirn in Falten, aber die einzige Erläuterung, die sie von dem Mädchen bekommt, ist eine ratlose Miene.
Delia reckt den Hals, versucht durch das hintere Flurfenster einen Blick zu erhaschen. Nichts. Unter einem Vorwand – sie muss nach den Kuchen sehen, die draußen abkühlen – schaut sie vor die Küchentür. Sie späht durch das Fliegengitter, das, durch das ihre Mutter so viele Jahre lang die Kinder im Auge behalten hat, wenn sie im Garten spielten. Delia geht ganz nahe heran und blickt die hölzerne Treppe hinunter.
Beide Männer sitzen reglos am Boden, an den dicken Stamm des Ahornbaums gelehnt. Manchmal sieht sie, wie ihre Lippen sich bewegen, aber sie reden so leise, dass nichts durch den Garten bis zu ihr dringt. Immer spricht einer für eine ganze Weile; dann, nach einer langen Pause, antwortet der andere. David untermalt seine Worte mit Handbewegungen, illustriert in der Luft die stockende Geometrie seiner Gedanken. Das Gesicht ihres Vaters ist angespannt, aber entschlossen. Seine Muskeln durchlaufen alle Reaktionen eines in die Ecke getriebenen Tiers: Erst Wut, dann Abwehr, schließlich stellt er sich tot.
Auch die Züge ihres Mannes erschlaffen, suchen nach einer Erklärung, die ihnen nicht gelingt. Aber die Hände sind unermüdlich, zeichnen ihre Gleichungen, ziehen ihren einzig möglichen Schluss. Die Finger formen geschlossene Schleifen, Linien, deren Ende
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