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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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einem Festival zum anderen. Daran änderte auch die Aufnahme nichts.
    Ich setze den Tonarm an den Anfang der ersten Seite – Schuberts »Erlkönig«, ein Lieblingsstück von Marian Anderson –, und schon zieht es mich wieder hinein in diese unendliche Schleife, das Klavier beginnt wieder seinen Galopp. Jonah und ich schicken die Botschaft des Liedes hinaus in die Welt, und seine Botschaft ist unverändert. Aber die Men-schen, an die wir sie schicken wollten, gibt es nicht mehr.
    Derselbe Präsident, der das Bürgerrechtsgesetz unterzeichnete, presste dem Kongress einen Blankoscheck zur Verschärfung des Krieges in Asien ab. Jonah und ich trugen unsere Militärausweise bei uns, wie das Gesetz es verlangte. Aber unsere Nummer wurde nicht gezogen. Wir kamen schließlich am anderen Ende des Minenfelds an, zu alt, um noch in die Falle zu gehen. Ein Jahr nach unserer Aufnahme brach im Sommer der Aufstand in Chicago los. Drei Tage später folgte Cleveland. Wieder war es Ende Juli, die Jahreszeit, zu der wir ein Jahr zuvor im Studio ge-wesen waren. Und auch diesmal wollten hilflose Reporter die Sommer-hitze verantwortlich dafür machen. Die Bürgerrechtsbewegung rückte nach Norden vor. Wer Wind sät, hatte Malcolm gesagt, wird Sturm ernten. Zu jedem unserer Auftritte begleitete uns die Gewalt, wir sahen sie auf dem Schirm jedes Hotelfernsehers. Ich starrte den kollektiven Albtraum an und fühlte mich irgendwie verantwortlich dafür. Jedes Mal, wenn ich die Platte auflegte, um mir noch einmal anzuhören, was wir beide erreicht hatten, brannte eine neue Stadt.
    »Nicht mehr lange, dann verhängen sie das Kriegsrecht.« Anscheinend gefiel Jonah die Vorstellung. Das war der Mann, der in Watts auf dem Bürgersteig gelegen hatte, der gewartet hatte, dass er erschossen wurde, und Noten aus dem Jenseits dazu sang. High Fidelity hatte gerade einen Artikel mit der Überschrift »Zehn Sänger unter dreißig, die uns den Liedgesang mit neuen Ohren hören lassen« gebracht und ihn auf Rang drei gesetzt. Dem Land meines Bruders ging es prächtig. Das Kriegsrecht trieb vielleicht sogar noch ein paar Leute mehr in die Konzertsäle.
    Ich blickte aus den oberen Stockwerken immer gleicher Hotels auf ein Kaleidoskop von Städten, deren Namen ich bald nicht mehr auseinander halten konnte, und hielt Ausschau nach der nächsten Rauchwolke. Die Musik jenes Jahres leugnete noch die Realität – »I'm a Believer«, »Good Vibrations«, »We Can Work It Out«. Nur dass diesmal Millionen von Zwanzigjährigen, die man seit ihrer Geburt nur belogen hatte, auf die Straße gingen; sie sagten Nein, sie sangen nicht mit uns, sie riefen tut etwas! Ich setze die Nadel bei Hugo Wolf auf, und erst jetzt höre ich, was wir beide damals taten. Mein Bruder und ich, wir zwei allein, rannten nach Leibeskräften, um in das brennende Haus zu kommen, aus dem das ganze Land gerade floh.
    Zum Jom Kippur riefen wir Pa aus San Francisco an. Nicht dass er sich an die jüdischen Feiertage gehalten hätte. Ferngespräche waren damals noch etwas, wo man alles, was gesagt werden musste, in drei Minuten herunterrasselte. Jonah machte den Anfang und berichtete über unsere jüngsten Konzerte, prestissimo. Dann kam ich an die Reihe und sang ihm die ersten Zeilen des Kol Nidre auf Hebräisch, ein Gesang, den ich mir nach der phonetischen Umschrift aus einem Buch beigebracht hatte. Aber mein Akzent war so schlimm, er verstand es nicht. Ich fragte, ob Ruth da sei. Pa antwortete nicht, und ich dachte, jetzt versteht er auch mein Englisch nicht mehr. Also fragte ich noch einmal.
    »Eure Schwester hat mich verlassen.«
    »Sie hat was? Pa, was redest du da?«
    »Sie ist ausgezogen. Weg.«
    »Wann war das?«
    »Gerade eben.« Bei Pa konnte das jeder erdenkliche Zeitraum sein.
    »Wo ist sie hin?« Jonah, der neben mir stand, sah mich fragend an.
    Pa wusste es nicht.
    »Was ist passiert? Habt ihr zwei ...?«
    »Es gab einen Streit.« In meinem Innersten flehte ich ihn an, mir nichts zu erzählen. »Das ganze Land ist in Aufruhr. Überall Rebellion. Und am Ende kam es auch zu eurer Schwester und mir.«
    »Kannst du nicht im College nachfragen? Schließlich bist du ihr Vater. Dir müssen sie die Adresse doch geben.«
    »Sie hat das Studium abgebrochen«, jammerte er. Mehr Kummer in der Stimme als an dem Dezembertag vor elf Jahren in Boston, an dem er uns sagte, dass unsere Mutter tot war. Dieser erste Tod folgte noch den Gesetzen seines Universums. Die jüngste Katastrophe stieß ihn in

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