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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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vom Tatendrang, überschlägt sich fast in immer neuen, immer obskureren Unterneh-mungen. Das sind die Augenblicke, in denen Delia ihn am meisten liebt, Augenblicke, in denen er sie so sehr braucht, dass er es überhaupt nicht mehr bemerkt. Was kann sie ihm an Trost geben, gefangen im Wettlauf um die Rettung der Welt? Sie gibt ihm das Hier, das Jetzt, die sichere Festung ihrer Mietwohnung.
    Eines Abends, es ist schon spät, die Luft ist schwül und drückend, die Jungs wälzen sich unruhig vor dem großen Standventilator, klingelt das Telefon. Manchmal läutet es eine ganze Woche lang nicht, und zu dieser Tageszeit kommt es so unerwartet, dass Delia, die eben dabei ist ihre Haare zu glätten, sich vor Schreck fast den Kopf versengt. David nimmt ab. »Ja? Wer? Vermittlung. Ah! Hallo, William.«
    Schon ist sie auf den Beinen. Ihr Vater, der Telefonhasser. Der überzeugt ist, dass diese Maschine die Menschen schizophren macht. Der jeden Anruf von seiner Frau erledigen lässt. Der Ferngespräche für Unsinn hält. In zwei Sprüngen ist sie bei David, reißt ihm den Hörer aus der Hand, und ihr Mann murmelt nur noch etwas auf Deutsch. Sie nimmt den Hörer, und irgendwo in weiter Ferne, eine dünne, blecherne Stimme, sagt ihr Vater ihr, dass Charlie tot ist. Umgekommen im Pazifik. »Auf einem Korallenatoll.« Ihr Vater hält sich an das Belanglose. »Eni-wetok.« Als könne der Name ihren Aufschrei verhindern. »Sie haben den Luftwaffenstützpunkt bewacht.«
    »Wie?« Eine Stimme, die sie nicht kennt. Sie bekommt keine Luft, und der kleinste Gedanke braucht eine Ewigkeit. Sie stellt sich vor, dass es aus der Luft geschah, dass der Feind ihren Bruder auswählte, weil er ein so gutes Ziel war, ein dunkler Punkt auf dem weißen Sand des Paradieses.
    Ihr Vater braucht einen Moment, bis er sich gefasst hat, und auch da klingt es noch eher nach einem Schluchzen. »Das solltest du lieber nicht ...«
    »Daddy«, stöhnt sie.
    »Sie haben eine Geschützbatterie von einem Schiff entladen. Eins der Stahltrosse ist gerissen und hat ihm ...«
    Er redet weiter, aber sie hört es nicht mehr. Ihr Verstand ist schon ganz mit praktischen Dingen beschäftigt. Bewältigen durch Bearbeiten. »Was ist mit Mama? Wie geht es Mama?«
    »Ich musste ihr ein Beruhigungsmittel geben. Sie wird es mir nie verzeihen.«
    »Und die Kleinen?«
    »Michael ist ... stolz. Er glaubt, er sei im Kampf gefallen. Die Mädchen verstehen noch gar nicht, was das bedeutet. Noch nicht.«
    Die Mädchen? Verstehen es noch nicht? Sie beißt sich an dem Wort ver-stehen fest, aber ihr Verstand kapituliert. Ihr Gesicht brennt, Tränen schießen ihr in die Augen. Schluchzer brechen aus ihr hervor, aber diese Laute können nicht in ihr gewesen sein. Sie spürt, wie David ihr den Hörer aus der Hand nimmt, hört, wie er hastig ein paar Abmachungen trifft, wie er auflegt. Und dann wird sie getröstet von den gespenstisch weißen Armen des Mannes, der doch immer ein Fremder bleiben wird, nie ein Blutsverwandter und doch der Vater ihrer Kinder.
    Sie fahren nach Philadelphia. Zu viert steigen sie in den Zug, der sie einst nach New York schmuggelte, unbemerkt von allen außer Charlie. Delia steht vor dem Haus, unter dem Baum, aus dem Char mit acht gefallen ist, der Sturz, von dem er die schiefe Nase und das vorstehende Schlüsselbein zurückbehielt. Ihre Mutter kommt ihr aus dem Haus entgegen. Sie taumelt schon, zwanzig Schritt bevor sie sich treffen, und Delia muss sie auffangen. Nettie Ellen hält sich die Hand vor den Mund, bringt tausend zitternde Gebete zum Schweigen. »Es kann doch noch nicht zu Ende sein. Er hat doch noch so viel zu tun.«
    Der Doktor steht hinter Nettie, vom Tageslicht geblendet. Sein Haar ist über Nacht weiß geworden. Sie ziehen sich ins Haus zurück, Dr. Daley stützt seine Frau, Delia hält ihren jüngeren Sohn, und der weiße Mann hat den stillen, doch aufmerksamen älteren an der Hand. Michael ist im Haus und trägt die Uniformjacke mit dem Abzeichen des Marine Corps, die sein Bruder ihm aus dem Ausbildungslager in North Carolina herausgeschmuggelt hat. Lucille und Lorene sitzen auf der Couch und zanken sich leise; sie blicken kaum auf, als ihre Schwester eintritt.
    Ihr Bruder Charlie, für immer verstummt. Keine bitteren Briefe, kein Spott mehr, keine improvisierte Minstrelshow, keine ironischen Kommentare, keine frechen Bemerkungen, kein trotziges Schulterzucken. Das neue Schweigen dieses Hauses umschließt Delia ganz, schluckt jeden Laut.
    Es gibt

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