Der Klang der Zeit
wieder zum Anfang zurück-führt. Ihr Vater nickt – eine kaum merkliche Bewegung des Kopfes. Keine Zustimmung, kein Sich-Abfinden. Nur ein Zur-Kenntnis-Nehmen, ein Ducken wie die Krone des Ahorns, wenn der erste Windstoß hinein-fährt. Sein Gesicht entspannt sich. Aus dieser Ferne betrachtet, durch den Gazeschleier des Fliegendrahts, könnte man es für Ruhe halten.
Sie bleiben über Nacht. Wenigstens so viel gibt Delia der Mutter, die ihr alles gegeben hat. Die Charlie alles gegeben hat und zum Dank dafür einen goldenen Stern für das Wohnzimmerfenster bekommt. Aber als am nächsten Morgen die Trauergäste kommen – vom Alter gebeugte Tanten und Onkel, Nachbarn, die Kochtöpfe mit frisch gebratenem, scharf gewürztem Geflügel bringen, Patienten, die ein Leben lang zu Dr. Daley gekommen sind, die Kinder dieser Patienten, viele älter als Charlie – als jede Menschenseele, die je den Jungen gekannt hat, und jeder, der nur Charcoal den Spaßmacher kannte, als sie alle ins Wohn-zimmer der Daleys strömen, sich versammeln wie der Chor einer unter-drückten Glaubensgemeinschaft, da packt Delia ihre Jungen und macht sich davon. Sie fühlt sich als Heuchlerin, als Fremde auf der Totenfeier ihres eigenen Bruders. Das will sie den anderen nicht antun; keiner soll erfahren, was mit ihrer kleinen Delia geschehen ist.
Diesmal weint Nettie Ellen nicht. Protestiert nicht einmal, dass ihre Tochter sie verlässt; nur als die Stroms sich auf den Weg zum Bahnhof machen, sagt sie: »Du bist jetzt alles, was von ihm geblieben ist.« Sie küsst ihre Enkelkinder zum Abschied und sieht ihnen nach, als sie gehen. Wie versteinert wartet sie auf den nächsten Schlag.
Dr. Daley verabschiedet Delia mit Küssen auf die Wange und schüttelt seinen Ernst gewordenen Enkeln die Hand. Zu David sagt er: »Ich habe über das nachgedacht, was du mir erzählt hast.« Er zögert lange, unentschieden zwischen seinem Zweifel und dem, was er gern glauben möchte. »Natürlich ist es Wahnsinn.« David nickt und lächelt, so eifrig, dass die Brille ihm von der Nase rutscht. Für den Doktor reicht das. Er fordert keine weitere Überzeugung, sagt nur noch: »Danke.«
Als sie wieder unterwegs sind, als die Jungen durch den Gang des Eisenbahnwagens toben, glücklich, dass sie dem Tode entronnen sind, fragt Delia. Alle im Wagen starren sie an, wie immer, manche mit verhaltener Neugier, andere mit offener Abscheu. Nur Delias helle Haut hält die bedrohten Vertreter der reinen Rasse davon ab, ihr und ihrer Familie an den Kragen zu gehen. Aber sie hat keine Zeit für diese Menschen. Sie ist ganz mit den Worten beschäftigt, die ihr Vater beim Abschied an David richtete. Wahnsinn. Natürlich ist es Wahnsinn. Ein Teil von ihr möchte die beiden gewähren lassen, möchte ihrem Vater und ihrem Mann wenigstens dies eine Geheimnis vor ihr gestatten. Aber der größere Part will teilhaben an dem wenigen, was sie als Trost gefunden haben. Es war nie leicht gewesen, ihren Vater zu trösten. Aber David war auf etwas gestoßen, was ihm half. Die ganze Fahrt über beherrscht sie sich. Dann, als der Zug schon einläuft, hört Delia sich von hoch oben, wie aus höheren Sphären, fragen. »David. Gestern.« Sie kann ihren Mann nicht ansehen, zu schockierend nahe ist er auf dem Sitz neben ihr. »Du und Vater. Ich habe euch gesehen, euch zwei. Von der Küchentür aus. Unter dem Ahornbaum.«
»Ja«, sagt er. Sie hasst ihn dafür, dass er es ihr nicht freiwillig erzählt, nicht ihre Gedanken liest, nicht antwortet, ohne dass sie so offen aussprechen muss, was sie braucht.
»Worüber habt ihr geredet?« Sie spürt, wie er den Kopf zu ihr dreht. Aber immer noch kann sie ihn nicht ansehen.
»Wir haben darüber gesprochen, warum man meine Leute aufhalten muss.«
Jetzt sieht sie ihn an. »Deine Leute?« Er nickt nur. Sie wird sterben. Wie ihr Bruder. Nicht mehr sein.
»Ja. Er wollte wissen, warum ich nicht ... kämpfe. In der Army.«
»Meine Güte. Du hast es ihm doch nicht gesagt?«
Ihr Mann breitet die Handflächen nach oben. Sagt: Wie könnte ich? Sagt: Vergib mir, ja.
Der Zug hält mit einem Ruck. Sie nimmt ihre Jungen an der Hand, und der ganze Wagen reckt noch einmal verstohlen den Hals, will sehen, ob die Kinder wirklich zu ihr gehören. Ihr Jonah albert herum, singt, versucht sich dem mütterlichen Griff zu entwinden, möchte am liebsten hinaus auf den Bahnsteig laufen. Joey blickt zu ihr auf, sucht nach Gewissheit, als ob ihn die Reise nach Philadelphia,
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