Der Klang der Zeit
keine Leiche, die sie begraben können. Was von Charlie übrig ist, verrottet auf einem Atoll in der Südsee. »Sie schicken ihn nicht zurück«, sagt Dr. Daley zu Delia, als die anderen ihn nicht hören können. »Sie lassen ihn in einem Sandloch, in dem das Salzwasser drei Handbreit hoch steht. Futter für die Haie. Das ist mein Land. Ich war schon hier, bevor die Pilgerväter kamen, und jetzt schicken sie mir nicht einmal meinen Jungen zurück.« Er weist auf den goldenen Stern, den Nettie Ellen im Fenster zur Straße hin aufgehängt hat. »Immerhin brauchen wir den nicht zu bezahlen.«
Am Abend halten sie eine improvisierte Totenwache. Nur die Familie. Das Netz, das sie zusammenhält, ist groß und stark. Viele sind schon da gewesen, haben Essen gebracht, geholfen, Trost zugesprochen, geschwiegen. Aber jetzt am Abend sind nur die Angehörigen beisammen, die Einzigen, denen der Junge immer vertrauen musste, ob er wollte oder nicht. Für ihren Kummer gibt es keine Heilung, nur das Gedenken. Jeder hat eine Erinnerung parat. Bei manchen Geschichten braucht man nur ein oder zwei Worte, dann sehen alle sie vor sich. Michael holt das alte Saxophon seines Bruders und spielt die Riffs, die er ihm einfach nur durch Zusehen gestohlen hat. Dr. Daley setzt sich ans Klavier, versucht sich an genau den Rhythmen mit der linken Hand, für die er seinen Sohn immer getadelt hat. Sechs volle Takte lang hält er es durch. Dann, als er hört, was seine Finger tun wollen, kann er nicht mehr.
Die meiste Zeit singen sie – volltönende, weit ausladende Lieder, Intervalle, die zurückreichen durch Generationen. Klagelieder. Lieder über das Ausharren, über die Flucht, die Reise ans andere Ufer. Dann kommen Melodien, die eher nach Hochzeit als nach Begräbnis klingen, sie danken dem toten Jungen für die Tage, die er bei ihnen war, für ein Glück, das sie nicht nennen dürfen, sonst bringt der Kummer sie um. Jedes Familienmitglied kennt seine Stimme, keiner muss sie zuteilen. Selbst Nettie Ellen, deren Worte versiegt sind, findet im Singen die Har-monien, schlägt mit der Hand auf ihrem Oberschenkel den Takt – den Herzschlag der Erlösung. Bound to go. Bound to go. I can't stay behind.
Jonah sitzt verzaubert auf dem Schoß seiner Mutter, den Mund offen, versucht mitzusingen. Joey quengelt, und David nimmt ihn und geht mit ihm nach draußen. Delia findet auch, es ist das Beste so. Sie schämt sich, aber es ist einfacher. Mehr Kanaan, mehr Geborgenheit, ohne dass immer wieder Erklärungen notwendig sind. Ohne dass alle die Farbe ansehen müssen, von der Charlie immer gesagt hat, sie sei zum Leiden zu hell.
»Die Leute wollen doch kommen. Sie bringen massenhaft zu essen.« Nettie Ellens bescheidene Bitte an ihre Tochter: Bleibt doch ein paar Tage. Wir müssen zusammenbleiben, wir müssen singen, bis der Junge nach Hause gefunden hat. Bleib einfach nur hier – die uralte Zuflucht ihrer Rasse, ein Trost, den es nur hier gab, in der Sicherheit des Wir. Jeder andere Ort verrät uns. Delia hört diese unausgesprochenen Worte, aber sie kann sie nicht ertragen. Keinen weiteren Tag. Die Zugehörigkeit lastet so schwer auf ihren Schultern, sie kann nicht mehr stehen. Angetrieben von einer Geschichte, die schon Jahrhunderte vor ihrer eigenen Vergangenheit angelegt war, bevor diese Vergangenheit auch nur die Chance hatte selbst Geschichte zu werden. Sie wird ersticken, hier im Wohnzimmer ihrer Mutter mit dem Geruch nach Möbelpolitur und Melasse, dem Geruch von Arbeit und Opfer, von Glauben und Entsagung und jetzt auch noch von toten Kindern. Sie muss fliehen, nach Hause, zurück zum Projekt ihrer eigenen Familie, zurück zu der Freiheit, die ihre Vierernation erfunden hat. Heute Nacht noch muss sie in die Freiheit zurück. Morgen ist es zu spät.
Sie versucht ihrer Mutter zu sagen, dass sie nicht bleiben kann. Aber die Frau hört sie schon, bevor Delia auch nur ein Wort sprechen kann. Ein tiefer Klagelaut steigt aus Netties Kehle empor, ein Schwall von dem, was den Worten vorausgeht, was immer es Elementares sein mag, woraus Worte gemacht sind. Das Schluchzen ihrer Mutter hat Rhythmus, ihre schmale Brust ist eine Trommel. Der Schwall der Trauer schießt aus ihr hervor wie aus einem zerbombten Staudamm, wallt herauf aus einer Welt, die Delia nur vom Hörensagen kennt, Reste ihrer Vergangenheit, die sich nicht abstreifen lassen, eine Sprache, die noch kein Englisch ist, ein Land älter als Carolina, älter als die alles vernichtende Überfahrt
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