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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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im tiefsten Inneren der Materie zugeht. Trotzdem versteht sie nicht, wie ihn das zum Bombenbauer machen konnte. Seine Kollegen haben ihn mitgenommen – Columbia, Chicago, New Mexico, all die endlosen Eisenbahnfahrten –, als Maskottchen, als den Clown, der ihnen ihre Rätsel löste. Immer war er der, der anderen half zu finden, was sie suchten.
    Vier Monate zuvor ist er als permanentes Mitglied in die Fakultät auf-genommen geworden, obwohl er weniger Publikationen vorzuweisen hat als jeder andere Professor dort. Seine Kollegen legten die Regeln großzügig aus, gaben ihm seine Anstellung im Grunde für den einen Aufsatz, den er noch in Europa publiziert hatte, den, von dem seine Freunde sagen, dass er seinen Namen noch für Jahre in der Diskussion halten wird. Sie hat versucht ihn zu lesen, aber sie ist an den Seiten abgeglitten wie an einem gläsernen Berg. Seither nur noch zwei weitere Beiträge, und die hat er geschrieben, als er krank im Bett lag. Seine amerikanischen Forschungen haben einfach nie Gestalt angenommen. Die lange Reihe von Entdeckungen, die auf der Ersten aufbauen sollten, exis-tiert nur in seinen Gedanken.
    Trotzdem hat die Universität ihm eine Lebensstellung verschafft, wenn auch aus schierem Eigennutz. Selbst jene, die überzeugt sind, dass aus Davids Arbeit nie etwas werden wird, haben von ihm mehr profitiert als von jedem anderen Kollegen. An erster Stelle die Studenten. Die Schüchternen, die, die kein Englisch sprechen, selbst wenn es ihre Muttersprache ist. Diejenigen, die ins Licht der Öffentlichkeit kommen, als stiegen sie aufs Schafott. Diejenigen, die immer das gleiche weiße Hemd mit kurzen Ärmeln, die gleiche Baumwollhose anhaben, selbst mitten im Winter. Sie lieben diesen Mann und drängen sich in seine Hörsäle. Sie würden ihr Leben für ihn geben. Die Ersten haben bereits angesehene Stellen bekommen – Stanford, Michigan, Cornell –, ihre Arbeit beflügelt von der Kunst des Denkens, die sie von ihrem geliebten Lehrer gelernt haben.
    »Was ist dein Geheimnis?«, hat sie ihn einmal gefragt. Sie, die selbst Gesangschüler hat.
    David zuckte mit den Schultern. »Jenen ohne Talent kann man nichts beibringen. Und die mit Talent brauchen keine Lehrer.«
    Allein mit seiner Lehrtätigkeit wäre er für die Fakultät ein Gewinn gewesen. Aber es gibt mehr – viel mehr. Er spaziert durch die Flure, einen Füllfederhalter in der Hand, eine Taschenpartitur von Händels Salomo unter dem Arm, und wartet, dass sich beim Klang seiner Schritte Bürotüren öffnen, dass jemand ihn hereinholt. Oder er sitzt in der Cafeteria, studiert seine Partitur, summt vor sich hin, bis ein ratloser Kollege sich auf den Platz neben ihm fallen lässt und über die neueste unlösbare Frage klagt. Um den Lohn einer Tasse Kaffee zeigt er ihnen dann den Weg zu Antworten, skizziert sie in groben Zügen auf einer Papierserviette. Nicht dass er die Aufgabe wirklich lösen würde. Von allem, was außerhalb seines kleinen Winkels der Zeit liegt, hat er bestenfalls eine vage Ahnung. Er ist nicht besonders geschickt bei Formeln, auch wenn er mit Begeisterung die Spiele spielt, die sie »Fermi-probleme« nennen. Fragen wie: Wie lang ist die Flugstrecke, die eine Krähe im Laufe ihres Lebens zurücklegt? Wie viel Portionen Haferflocken ergäbe ein Haferfeld von hundert Hektar? Wie viele Noten hat Beethoven zu Papier gebracht? Wenn er ihr solche Fragen stellt, antwortet sie: »Lang.« – »Eine Menge.« – »Genug für uns.«
    Aber um den Preis einer Tasse Kaffee gibt er ihnen etwas Unschätzbares. Sie ziehen von dannen, die magische Serviette in der Hand, prägen sich die gekritzelten Zeichen ein, bevor sie verblassen, überzeugt, dass sie ja auch von sich aus daraufgekommen wären, hätten sie nur ein wenig mehr Zeit gehabt. Aber so geht es schneller, leichter. Keiner könnte sagen, was David macht. Nichts Greifbares. Er nimmt ihnen einfach nur die Scheuklappen ab. Führt sie durch ihren hermetischen Raum, bis sie die verborgene Tür finden. Er malt ihnen etwas auf die Serviette, verlässt sich eher auf Bilder als auf Gleichungen. Seine Kollegen werfen ihm vor, dass es im Grunde gar kein Denken ist. Sie sagen, er springe einfach vor in die Zukunft zu einem Punkt, an dem das Problem schon gelöst ist, und dann komme er mit den Umrissen der Lösung, die sie erst noch finden müssen, zurück.
    Seine Bilder sind die versteinerten Fußabdrücke, die er aus zukünftigen Welten zurückbringt: Kobolde, die die Treppe

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