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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Richtung Stuhl. Wie viele Abende hat sie ihm nun schon beim Ausziehen zugesehen? Mehr als eine Krähe an Meilen fliegt. Wie viele werden ihr noch bleiben? Weniger als die Noten eines Beethoven-Allegros.
    Sie liegt im Bett, nur Zentimeter von dem Mann, der mitgeholfen hat – ja wobei? Bei der Geburt eines neuen Zeitalters. Der seinen vor Ehrfurcht starren Freunden geholfen hat, das Unmögliche zu denken, und dann ließen sie es Wirklichkeit werden. Sie könnte ihn danach fragen, aber vielleicht bekäme sie nur Verwirrung als Antwort. Näher als unmittelbar neben ihn kann sie nicht kommen. Jeder Mensch eine Rasse für sich. Jeder von uns ein Ich, in das sich kein anderer hineinversetzen kann. Wie ist dieser Mann in dieses Bett gekommen? Und wie sie? Gerade einmal fünf Jahre verheiratet, schon kann sie es nicht mehr sagen. Und noch weniger könnte sie voraussagen, was fünf weitere ihnen bescheren werden. Sie malt sich aus, wie es sein wird, sie – ihre eine, einsame Rasse – in fünf Jahren dieses neuen Zeitalters. Dann fünfzig Jahre voran und noch weiter. Sie sieht sich gefesselt, sieht, wie sie sich befreit, wie etwas Neues aus ihr wird. Sie spürt das, was der unergründliche Mann an ihrer Seite ihr immer wieder versichert: »Alles was nicht gegen die Gesetze der Natur verstößt, muss früher oder später geschehen.«
    Er liegt nackt neben ihrer eigenen Nacktheit. Er oben auf der dünnen Decke, sie halb darunter. Sie kann nicht ohne Zudecke schlafen, ganz egal wie warm es ist. Hunderttausend Menschen umgekommen in einem Blitzschlag aus heiterem Himmel, und sie kommt nicht ohne Decke aus. Auch sie wollte diese Bombe. Auch sie hat ihn zur Eile angetrieben. Eine Macht so böse, dass sie die Macht des Bösen brechen konnte. Jetzt ist der Krieg vorüber, und das Leben – was immer sie daraus machen – beginnt von neuem. Jetzt muss der Frieden sich dem Schrecken stellen, den der Krieg hinterlässt. Nun muss die Welt ein einziges Volk werden oder Milliarden Völker.
    Aber nur einer ist ihr Mann, und der liegt neben ihr, ein Leib für sich. Er stützt sich auf, die Hände im Nacken, die Ellbogen formen einen Schiffsbug, sein Kopf ist die Galionsfigur. Im Profil sieht er seltsam aus, eine fremde Spezies. Hätte er diese Ehe auf sich genommen, wenn er ge-wusst hätte, was das Leben bereithielt? Der ewige Kampf, wenn sie auch nur vor die Tür gingen, bis zur nächsten Straßenecke, zum Einkaufen. Die Male, wo sie tun mussten, als seien sie Fremde, bestenfalls Bekannte, Herr und Dienerin. Die unterschwelligen Angriffe, die gemurmelten Drohungen – genau das, wovor er in dieses Land geflohen war. Der Kleinkrieg, den nie ein Blitz beenden wird.
    Sie hätte es nie zulassen dürfen, denn anders als er hatte sie gewusst, was kommen würde. Wie sehr sie ihn in das alles hineinziehen würde.
    Wie viel sie unmöglich machen würde. Und doch kamen die Kinder, so unausweichlich wie Gott, jetzt wo sie da sind, mussten sie ja wohl geboren werden. Ihre beiden kleinen Männer, ihr Jojo, die keine Chance hatten, nicht zu sein. Und dieses neue Leben, das in ihr schlummert, weich und rund wie im Inneren eines Erdhügels: Auch das eine Geschichte, die es immer schon gab. Sie und dieser Mann sind nur hier, um die drei in die Welt zu bringen.
    Ihr Mann dreht sich zu ihr hin. »Wo schicken wir sie in die Schule?«
    Er liest ihre Gedanken, so wie er es jeden Tag getan hat, seit dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten. Sie braucht keinen weiteren Beweis dafür, dass dieser Krieg ihr Krieg ist, die Aufgabe ihres Lebens. Schule würde die beiden umbringen. Im Vergleich zu den Lektionen, die sie dort täglich zu lernen hätten, wäre gewöhnliche Schulhofgrausamkeit ein Pfadfinderausflug. Ihr Jojo, wie ein Vexierbild aus einer Zeitschrift: Weiß wie Papier vor dem einen Hintergrund, pechschwarz vor dem nächsten. Schon jetzt gehören sie nirgendwohin. Ihr Ältester hat das absolute Gehör. Sie hat es auf den Prüfstand gestellt: unfehlbar. Und anscheinend bringt er es seinem Bruder bei. Sie spielen miteinander, malen, singen keinen falschen Ton selbst in den kompliziertesten Kanons. Sie lieben einander, lieben ihre Eltern, sehen keinen Unterschied in den Schattierungen. All das würde die Brutalität der Schule zerstören.
    »Wir können sie selbst unterrichten, hier zu Hause.« Sie spricht aus, was er denkt.
    »Wir können sie selbst unterrichten. Du und ich, die beiden in einer Klasse.«
    »Ja.« Sie dämpft seine Lautstärke.

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