Der Klang der Zeit
»Wir zwei zusammen, wir können ihnen eine Menge beibringen.«
Er lehnt sich zurück, zufrieden mit der Aussicht. Vielleicht ist das typisch weiß, typisch Mann. In sich ruhend, selbst an einem Tag wie diesem. Selbst nach allem, was mit seiner eigenen Familie geschehen ist. Nicht lange, und seine Zufriedenheit lässt ihn ihr abendliches Ritual beginnen. Heute ist er an der Reihe. Er summt eine Melodie. Sie weiß nicht, was es ist. Den Namen kennt sie nicht, aber ihr Verstand wälzt die Melodie um. Etwas Russisches: Taiga, Zwiebeltürme. Eine Welt so fern der ihren, wie es diese Welt überhaupt nur zulässt. Und als sein gemächliches Wolgalied die zweite Strophe beginnt, ist sie dabei mit dem Diskant.
Das ist ein Spiel, das sie Abend für Abend spielen, häufiger als Sex und genauso wärmend. Einer beginnt, der andere stimmt ein. Sie findet eine zweite Stimme, selbst wenn sie die Melodie noch nie gehört hat, selbst wenn sie vom Dachboden einer Kultur kommt, zu der sich kein Mensch mehr bekennt. Das Geheimnis liegt in den Zwischenräumen. Man muss eine zweite Stimme finden, die sich halb von der Melodie löst und den-noch zu ihr gehört. Musik, die sich aus einer einzigen Note entwickelt und dann im gleichen Rhythmus mitschwingt.
Summen im Bett, sanfter als die Liebe, so leise, dass die beiden schlafenden Kinder nicht wach werden. Das dritte, gleich unter der Bauchdecke, hört gewiss gerne zu. Sie singt, im Einklang mit einem Mann, der so wenig von ihrer Vergangenheit weiß wie sie von den melancholischen Melodien der Zarenzeit. Seine ganze Familie verloren, und doch wissen sie nicht einmal genug, um zu trauern. Seine Fingerabdrücke auf einer Bombe, die hunderttausend Menschen umgebracht hat. Es ist August, zu heiß für die kleinste Berührung. Aber als das Lied verklingt und sie sich schlafen legen – kein Schutzengel wacht über sie aus dem jüngst entvölkerten Himmel –, da fährt er ihr doch mit den Fingern über den Rücken, und ihre Hand greift hinter sich und ruht, für die nächste halbe Stunde zumindest, auf der vertrauten Fremde seines Schenkels.
Ihr Vater schreibt David einen langen Brief, begonnen am Tag nach dem zweiten Bombenabwurf und beendet drei Wochen darauf. »Lieber David.« So beginnen ihre Briefe immer: »Lieber William.« – »Lieber David.«
Diese unglaubliche Nachricht erklärt alles, was du mir in den vergangenen zwei Jahren nicht anvertrauen konntest. Jetzt erst begreife ich, was für eine Belastung das für dich gewesen sein muss, und ich danke dir dafür, dass du es so weit mit mir geteilt hast, wie unter den Umständen möglich war.
Wie ganz Amerika singe ich das Lob jeder höheren Macht, die es geben mag, erleichtert, dass dieses Kapitel in der Geschichte der Menschheit abgeschlossen ist. Glaube mir, ich weiß, wie lange es sich noch hingezogen hätte, wäre der Wissenschaft nicht der Bau dieser »kosmischen Bombe« gelungen. Nicht zuletzt danke ich dir um Michaels willen. Aber so viel anderes an dieser neuesten Entwicklung ist mir unbegreiflich, dass ich dir schreiben will in der Hoffnung auf Aufklärung.
Delia sieht ihrem Mann zu, wie er liest, die Augen zusammenkneift, verwirrt von den Worten.
Ich zweifle nicht, dass die erste Detonation sein musste. Sie scheint mir eine politische Notwendigkeit, ein wissenschaftlicher Triumph, mora-lisch gerechtfertigt. Doch dieser zweite Abwurf ist kaum mehr als ein Akt der Barbarei. Welcher zivilisierte Mensch könnte eine solche Tat gutheißen? Wir haben Zehntausende weiterer Menschen getötet, ohne dass wir dem Land auch nur eine Chance gegeben hatten zu begreifen, was geschehen war. Und wozu ? Doch wohl in erster Linie, um unsere absolute Überlegenheit vor Augen zu führen, unsere Ansprüche auf genau die Weltherrschaft, die wir doch – in diesem Glauben war ich – ausgezogen waren zu beenden ...
David Strom sieht fassungslos die Tochter seines Anklägers an. »Ich verstehe das nicht. Will er sagen, dass ich dafür verantwortlich bin?« Er reicht das Blatt seiner Frau, und sie überfliegt es. »Er kann mir doch keine Vorhaltungen für die Bombe machen. Sicher, ich habe für die Regierung gearbeitet. Wie die Hälfte aller Wissenschaftler in diesem Land. Mehr als die Hälfte! Ich habe mir ein paar Gedanken über Neutronenabsorption gemacht. Später habe ich geholfen, die Probleme der Implosion zu lösen. Ich habe mehr Arbeit in elektronische Abwehrmittel gesteckt, die nie gebaut wurden, als in die
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