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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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unbedingt nach Deutschland willst.«
    »München hat mir kein Flugticket und kein stattliches Stipendium geboten.«
    »Und Magdeburg hat das?«
    »Deutschland, Joey! Das Land deiner Vorfahren! Die Deutschen haben die Musik erfunden. Musik ist der Quell ihres Lebens. Dafür ist ihnen kein Opfer zu groß. Das ist wie ... Schusswaffen hier.«
    »Sie wollen dich benutzen. Kalter Krieg. Propaganda. Du bist ihr le- bendes Exempel. An dir zeigen sie, wie Amerika seine –«                   
    Mit einem lauten Lachen griff er in die Tasten und spielte eine Pro–kofiewsche Parodie der Internationalen. »So bin ich, Joey. Verrate mein Heimatland. Genauso ein Verräter wie dieser Kommandant Bucher.« Er sah mich an mit einem breiten Grinsen. »Aufgewacht, Mann! Haben die Vereinigten Staaten uns etwa nicht benutzt, unser ganzes Leben lang?«
    Die Vereinigten Staaten hatten ihm die Hauptrolle in einer Opernpremiere an der Met angeboten. Aber Künstler durfte er nur sein, wenn er das Kainsmal trug. Angeblich kannte die Musik keine Grenzen. Aber sie verschaffte ihm leichter eine Fahrkarte in das letzte stalinistische Land der Erde als eine Eintrittskarte zum weißen New Yorker Establishment. Ich blickte ihn flehend an, sein schwarzer Begleiter, ein Onkel Tom im Schwalbenschwanz, immer bereit, sich missbrauchen, sich ausnutzen zu lassen, am allermeisten von seinem Bruder; ich war bereit, das alles auf mich zu nehmen, wenn wir nur weiter so leben konnten, als gehörte alle Musik uns.
    Er strich mir über den Kopf, fest überzeugt davon, dass diese rituelle Demütigung uns für immer zusammenhalten würde. »Komm doch mit, Joey. Komm. Telemanns Geburtsstadt. Wir machen einen drauf.« Jonah verabscheute Telemann. Das Einzige, was der Mann je für die Musik getan hat, war, dass er eine Stelle abgelehnt hat, die sie dann Bach geben mussten. »Aus unseren Auftritten in diesem Lande in den letzten
    Monaten kann man es schwerlich ablesen, aber wir zwei haben einen Marktwert. Leute zahlen Geld, um zu hören, was wir können. Drüben wird alles vom Staat unterstützt. Warum sollen wir uns da nicht unser Stück vom Kuchen holen ? Wir sind doch schließlich Söhne des Landes, oder?«
    »Was denkst du dir dabei? Jonah.«
    »Hm? Ich denke mir überhaupt nichts. Ich sage nur, wir können uns doch auch mal auf ein Abenteuer einlassen. Wir sprechen die Sprache. Die Eingeborenen werden staunen. Ich werde hier so schnell keine Frau ins Bett bekommen. Und du auch nicht, oder, Muli? Lass uns doch mal sehen, wie die Fräuleins dieser Tage so drauf sind.« Sein Blick blieb lange genug auf mir haften, dass er sehen konnte, wie seine Worte wirkten. Auf den Gedanken, dass ich auch einmal nein sagen könnte, war er nie gekommen. Er wechselte die Tonart hektischer und willkürlicher als später Strauss.
    »Jetzt komm schon, Joey. Salzburg. Bayreuth. Potsdam. Wien. Wo immer du hinwillst. Wir können einen Ausflug nach Leipzig machen. Eine Pilgerfahrt zur Thomaskirche.«
    Er klang verzweifelt. Ich verstand nicht warum. Wenn er so sicher war, dass er in Europa mit offenen Armen empfangen wurde, wozu brauchte er dann mich? Und wenn erst einmal die Angebote für Konzerte und Orchestersoli kamen, oder sogar – sein unerreichtes Ziel – für Opern, was wollte er dann mit mir? Ich reckte hilflos die Hände in die Höhe. »Was sagt Pa dazu?«
    »Pa?« Er stieß die Silbe aus wie ein Lachen. Auf den Gedanken, es unserem Vater zu sagen, war er nicht gekommen. Unserem Vater, dem unpolitischsten Menschen, den es je gegeben hatte, und der einmal hundert Kilometer von Magdeburg gewohnt hatte. Unserem Vater, der geschworen hatte, nie wieder einen Fuß in das Land seiner Geburt zu setzen. Ich konnte nicht mitfahren. Unser Vater brauchte mich hier. Vielleicht meldete unsere Schwester sich. Wer sollte sich hier um alles kümmern, wenn ich zuließ, dass mein Bruder mich monatelang fortschleppte? Jonah hatte keine Pläne und brauchte auch keine. Er brauchte eigentlich überhaupt nichts, nichts außer mir, und ich verstand nicht warum.
    Ich führte mir vor Augen, wie viel ich aufgeben sollte. Als ich nicht mit dem erwarteten Ja reagierte, wirkte er verwirrt. In seine Manier des überschwänglichen Werbers mischte sich nun Panik, und schließlich lief alles auf eine einzige, vorwurfsvoll vorgebrachte Frage hinaus: »Also, kommst du nun mit?«
    »Jonah.« Getrieben von seinem Blick löste ich mich von meinem Körper und betrachtete uns beide aus der Höhe.

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