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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hinauf– oder hinabsteigen. Schlangen von Kinobesuchern, die vor zwei getrennten Türen anstehen. Zickzackpfeile, deren Vorder- und Hinterende sich in einem wirren Geflecht verbinden – eine experimentelle, erweiterte Noten-schrift. Zum Dank dafür, dass er ihre Blockade löst, setzen die anderen ihm dann zu, wollen wissen, wie er immer wieder mit einem einzigen Geistesblitz den Blickwinkel findet, aus dem man alles erkennt.
    »Ihr müsst das Zuhören lernen«, sagt er. Wenn Teilchen, Kräfte und Felder den gleichen Gesetzen gehorchen wie Zahlen, dann müssen sie klingen wie kosmische Harmonien. »Ihr denkt mit den Augen; das ist euer Fehler. Kein Mensch kann vier unabhängige Variablen sehen, die eine Oberfläche in fünf oder noch mehr Dimensionen beschreiben. Aber ein Ohr, das sich einstimmt, kann die Töne hören.«
    Die Kollegen tun es als bloße Metapher ab. Sie glauben, er will etwas vor ihnen verbergen, will seine Geheimmethode für sich behalten, bis sie ihm die eine sensationelle Erkenntnis beschert, nach der er forscht. Vielleicht will er auch einfach nur weiter Kaffee schnorren.
    Delia hingegen glaubt ihm und versteht was er sagt. Ihr Mann folgt seinem Gehör. Melodien, Intervalle, Rhythmen, Notenwerte: Sphärenmusik. Andere bringen ihm ihre unlösbaren Rätsel – Teilchen die rückwärts fliegen, Phantomerscheinungen an zwei Orten gleichzeitig, in sich zusammenfallende Gravitationsfelder. Noch während sie diese Dinge beschreiben, hört ihr David den Kontrapunkt der Komposition. Damit, das begreift sie jetzt, wo sie im Bett liegt und ihm beim Ausziehen zusieht, hat er ihnen beim Bombenbauen geholfen. Er hat nicht wirklich mit daran gearbeitet, er hat nur dafür gesorgt, dass die Gedanken der Erbauer zum Vorschein kamen. Alles nur spielende Jungen. Der ewige Jagdinstinkt.
    Ihr Mann knöpft den Hemdkragen auf und befreit sich unter Verren-kungen aus den Ärmeln. Die Stoffschläuche hängen schlaff an ihrem windschiefen Bügel. Sie wird seinen Schrank in Ordnung bringen, wenn er am Morgen wieder zur Universität gegangen ist. Er zieht in Unter-hemd und Boxershorts durch das Zimmer, den Frieden der Nacht schon in den Augen. Der Krieg ist vorüber oder wird binnen kurzem vorüber sein. Er wird wieder arbeiten können, frei von aller lästigen Politik, dem Kräftemessen mit all seinen Übeln, auf die er, ein ungläubiger Jude mit einem Hang zur Gelehrsamkeit, sich freiwillig nie eingelassen hätte. Das Leben kann weitergehen, endlich wieder sicher, auch wenn es nie mehr so sein wird wie vor dieser Sicherheit. So ist er, ihr Mann, der an diesem Augustabend über die Dielen tappt, die Strecke zu ihrem Bett schwerer zu berechnen als jedes Fermi-Problem.
    Ist es so, wie du es dir ausgemalt hast?, möchte sie fragen. Ein Zahnräd-chen im größten Bauprojekt aller Zeiten. Nichts. Sie würde ihn gern genauer fragen, was er getan hat, welchen einzelnen Teil dieser Erfindung er möglich gemacht hat. Aber er langt bei ihr an, bevor sie den Mut findet. Sein Gewicht drückt ihr Bett nieder, und wie an jedem Abend sehen sie erst, als sie nebeneinander liegen, wie unterschiedlich sie sind. Er sieht sie an, das größere Geheimnis. Er legt die Hand auf den gerun-deten Bauch, das dritte Leben, das sie in diesem Hause neu begründet haben. Er sagt etwas Zärtliches, das sie nicht versteht, weder Englisch noch Deutsch, in einer Sprache älter als beide, eine uralte Segensformel.
    Es ist August, zu heiß für die kleinste Berührung. Er reibt sie mit einem Tüchlein mit Alkohol ein, aus einer Flasche, die sie dafür auf dem Nacht-tisch haben. Eine kleine Weile lang spürt sie die Kühle. »Dir ist doch heute nicht übel gewesen?«
    Sie belügt ihn nie, und so sagt sie zu den Rissen in der Decke: »Ein wenig. Aber es hatte nichts mit dem Baby zu tun.«
    Er sieht sie an. Begreift er es? Immer die gleiche Frage. Und keiner kann ihr eine Antwort geben, die nicht selbst wieder die Antwort schuldig bliebe. Er wendet den Blick ab von ihrem Bauch, in dem die Frucht heranwächst. Er setzt sich auf das Bett. Er zieht das Unterhemd über den Kopf, entblößt die Brust, die sie noch immer unbegreiflich findet. Er legt sich auf den Rücken, die Schultern an die Matratze gedrückt, die Hüften in die Höhe, wie ein Ringer, der sich aus einem Würgegriff befreit. Mit einer einzigen langen Bewegung zieht er die Boxershorts herunter. Noch einmal windet er sich wie ein Fisch, dann ist er nackt, seine Unterhose ein lautloses Geschoss in

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