Der Klang der Zeit
»Hast du mich nicht lange genug herumgezerrt?«
Er brauchte eine Sekunde, bis er mich hörte. Und dann hörte er nichts außer Verrat. »Sicher, Muli. Wie du willst.« Er nahm Kappe und Cordjacke und ging. Zwei Tage lang ließ er sich nicht blicken. Er kehrte gerade rechtzeitig für unseren nächsten Auftritt zurück. Und drei Wochen später packte er seine Koffer und war zum Aufbruch bereit.
Er hatte sein Visum und seinen Flugschein mit offenem Rückflug. »Wann bist du wieder hier?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Mal sehen, was sich ergibt.« Wir hatten uns nie die Hände gereicht, und so taten wir es auch jetzt nicht. »Pass auf dich auf, Muli. Und lass die Finger von Chopin.« Entscheide selbst, was du mit deinem Leben anfangen willst, hätte er sagen sollen. Aber das wollte er nach wie vor für mich entscheiden. Das Einzige, was er sagte, war: »Bis dann. Schreib mir, wenn du Arbeit findest.«
AUGUST 1945
Delia ist in der U-Bahn unterwegs, als sie die Schlagzeile sieht. Nicht in einem offiziellen Negerabteil, aber mit diesen Gesetzen nimmt es hier keiner so genau. Die Farbe der Fahrgäste ändert sich mit den Straßen über ihnen. Sicherheit, Trost, Geborgenheit – das kleine bisschen Beistand, das einem ein Wohnviertel bietet, ganz gleich ob man freiwillig oder erzwungenermaßen dort wohnt. Freiheit und das Gegenteil von Freiheit verlaufen ineinander, leichter denn je in diesen letzten Kriegstagen. Sie kennt die verwischte Grenze aus nächster Nähe – Dinge, die ihr aufgedrängt werden, bis es ihr vorkommt als hätte sie selbst es so gewollt; selbst gewählte Dinge so verbissen verteidigt, dass sie wirken wie Zwang.
Dienstagmorgen. David ist zu Hause mit den Jungen. Sie fährt nur eben in die Stadt, um einen Eisbeutel für den Kleinen zu kaufen. Er ist auf der Treppe vor der Haustür gefallen und hat sich den Knöchel verstaucht. Nur ein einziger Aufschrei. Aber der Knöchel ist blau und geschwollen, dicker als ihr Handgelenk, und das arme Kind braucht das bisschen Beistand, das nur ein Eisbeutel leisten kann.
Sie fährt zwei Stationen weit bis zu einer Apotheke, in der man sie bedient. Man kennt sie dort – Mrs. Strom, Mutter von zwei Jungen. Zwei Stationen – fünf Minuten. Aber die Schlagzeilen liest sie in Sekunden, schnell wie ein Blitz. Drei Zeilen Großbuchstaben über die ganze Seite. Nicht ganz so groß wie bei der Schlagzeile im Mai, als das Ende der europäischen Apokalypse verkündet wurde. Aber sie springen ihr von den Seiten entgegen, eine stumme Explosion.
Ein tiefschwarzer Mann neben ihr sitzt über die Zeilen gebeugt, schüttelt den Kopf, will es nicht glauben. Die Nacht hat einen »Regen der Zerstörung« gebracht. Eine Bombe mit der Kraft von zwanzigtausend Tonnen TNT. Die Ladung von zweitausend B-29-Bombern. Sie versucht sich eine Tonne TNT vorzustellen. Zwei Tonnen. Zwanzig –ungefähr so viel musste der U-Bahn-Wagen wiegen, in dem sie saß. Dann das Zehnfache, davon wiederum das Zehnfache und noch einmal das Zehnfache.
Wie gebannt starrt ihr Nachbar auf die Buchstaben. Er lässt den Blick immer wieder vom einen Ende zum anderen wandern, und sein ganzer Kopf ist ein einziges steifes, ungläubiges Nein. Er hat seine Mühe nicht mit den Worten, sondern mit den Ideen, für die sie stehen sollen. Für das, was diese Worte sagen, gibt es noch keine Worte. Sie liest heimlich mit, blickt ihm über die bebenden Schultern. ANBRUCH EINES NEUEN ZEITALTERS . Sein Blick bleibt unverändert. U NDURCHDRINGLICHE STAUBWOLKE ÜBER DER GANZEN STADT. Delia denkt: diese Stadt. WISSENSCHAFT STAUNT ÜBER MÄCHTIGEN BLITZ. SELBST ARBEI-TER KANNTEN GEHEIMWAFFE NICHT.
Sie hatten es schon am Vorabend im Radio gehört. Die Bestätigung für das, was ihr Haushalt schon lange wusste. Aber erst jetzt, wo sie es schwarz auf weiß sieht, in diesem U-Bahn-Wagen voller Neger, begreift sie es wirklich. Der TAG DER ATOMKRAFT ist angebrochen, auch wenn der Wagen noch genauso aussieht wie immer. Der tiefschwarze Mann neben ihr schüttelt den Kopf, betrauert den Tod von Zehntausenden braunhäutiger Menschen, aber für alle anderen im Abteil geht der Tag weiter, als sei nichts geschehen. Eine Frau ihr gegenüber, im roten Seidenhut, prüft in einem Taschenspiegel ihren Lippenstift. Der Junge im zerbeulten Filzhut links von ihr studiert seine Sportzeitung. Ein kleines Mädchen, zehn, in Ferienstimmung, hüpft den Gang hinunter und findet ein blitzendes Zehncentstück, das ein Unglücklicher
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