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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hielt den Atem an und machte sich zu meinem Instrument. Ich drückte jede Note so präzise, als wäre das Bein tatsächlich meine Klaviatur. Sie hörte die Musik mit ihrer Haut. Ich spürte, wie sie die Tonfolgen meiner Finger spürte. Das We'll build a little home for two umspielte ich mit einem Obbligato, und es passte sich so gut ein, dass ich beinahe überrascht war, dass es im Original nicht vorkam. Beim from which I'll never roam machte ich einen kleinen Spaziergang vom Unver-bindlichen zu den hohen Tasten unter dem Rock. Bei den letzten Zeilen stimmte Teresa leise und harmonisch ein, Noten, die sie schon hundert-mal in dieser Wohnung vor sich hin gesungen hatte, vielleicht sogar mit jemand anderem, bevor ich aufgetaucht war.
    Als das Lied zu Ende war, ließ ich die Hand auf ihrem Bein liegen, auf den lautlosen Tasten. Ich brachte es einfach nicht fertig sie wegzuziehen. Ihre Muskeln zuckten in freudigem Schauder. Ich spürte den eigenen Pulsschlag in meiner Handfläche. Teresa stand auf. Meine versteinerte Hand rutschte herunter. »Ich habe was für dich.« Sie ging ans andere Ende des Zimmers zu ihrer mit Nippes übersäten Kommode. Hinter einem geschnitzten indischen Elefanten holte sie einen Umschlag hervor. Vielleicht steckte er schon seit Wochen dort. Sie kam damit zum Sofa und drückte ihn mir in die Hand. Vorn darauf stand der Name Joseph in einer runden Kinderhandschrift. Meine Hände zitterten, als ich ihn öffnete, so wie sie früher nach wichtigen Konzerten mit Jonah gezittert hatten. Ich wollte den Inhalt hervorholen, ohne ihn zu zerreißen. Teresa saß daneben, legte mir den Handrücken an den Hals, als binde sie mir eine neue Seidenkrawatte um.
    Ich mühte mich weiter mit dem Umschlag und wartete schon, dass sie ihn mir wegnahm und für mich öffnete. Endlich hielt ich die Karte in der Hand. Terrie hatte sie selbst gebastelt, zwei Tiger, die sich argwöhnisch im Kreis um den Stamm eines Baums verfolgten, der wie eine Palme aussah. Innen stand in derselben Kinderschrift: »Ich will, wenn du willst.«
    Der Brief wäre vielleicht für alle Zeiten ungeöffnet auf der Kommode stehen geblieben, hätte immer weiter darauf gewartet, dass meine Hand einmal die ihre berührte, und sei es aus Versehen. Aber er war da, bereit für den Augenblick, in dem ich bereit war. Die stille Geduld, die in dieser selbst gezeichneten Prophezeiung lag, rührte mich, und ich saß auf dem Sofa und weinte. Sie führte mich zu ihrem Bett und hüllte mich in Laken, die nach Karamell rochen. Sie schlüpfte aus ihren Kleidern und stand da, bereit für mich. Ich konnte die Augen nicht abwenden. Ich saß hoch oben auf einer Klippe und blickte hinunter in ein unvermutet aufgetauchtes gewundenes Flusstal. Ich hatte mir sie wie Sahne, wie Musselin, wie Chinaporzellan vorgestellt. Aber ihr Körper – ihr schlanker, sanft geschwungener Leib – schimmerte in allen Farben. Ich fuhr mit den Fingern darüber, ging ganz nahe an jeden Zentimeter dieses neuen Terrains heran, das Hellblau der Adern an ihrem Hals, das Terrakotta der Brustwarzen, ein blaugrüner Fleck knapp über der Hüfte, wo sie sich gestoßen hatte. Ich konnte mich gar nicht satt sehen an dem Regen-bogen, bis sie, verlegen geworden von meinem Vergnügen an ihr, sich vorstreckte und das Licht löschte.
    In dieser Nacht gab sie mir mich selbst zurück. Ich war mit einer Frau im Bett. Nie zuvor hatte ich die ganze Melodie gehört, vom Anfang bis zum Ende. Aber ich kannte genug Takte, dass ich so tun konnte als ob. Ich spürte, wie ihre Beinmuskeln sich bei meiner Berührung überrascht zusammenzogen. Unsere Haut berührte sich, schockiert von dem Farbunterschied, selbst im Dunkeln. Sie summte etwas, ihren Mund an meinem Bauch, aber ich konnte die Melodie nicht erkennen. Ihr Mund machte einen Laut wie ein Staunen, als ich in sie eindrang. Ihre Kehle hielt den zeitlosen Takt, und jedes Stöhnen war wie Musik.
    Danach hielt sie mich fest, ihre Entdeckung. »Die Art wie du spielst, ich wusste es. Einfach nur aus der Art wie du spielst.«
    »Du müsstest meinen Bruder hören«, sagte ich, schon halb eingeschlafen. »Der ist der große Musiker.«
    Ich schlief wie ein Toter, auch wenn Teresas Hände noch immer die Gletscherspalten in meinem Rücken schmelzen ließen. Als ich erwachte, beugte sie sich über mich wie Psyche, ein Glas Orangensaft in der Hand. Im Zimmer war es strahlend hell, und sie war schon angezogen, in ihrem Kittel für die Bonbonfabrik. My honeysuckle rose. Ich

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