Der Klang der Zeit
war fast sofort wieder im Takt, keiner außer ihr Begleiter hatte den Schnitzer überhaupt bemerkt.
Aber für den Rest des Liedes klang sie angespannt. Den Grund für den Stimmungswandel vermutete ich in dem älteren Mann, der in der Mitte der Strophe hereingekommen war und sich einen Platz hinten im Raum gesucht hatte, ein Mann, dessen bohrendem Blick Teresa sichtlich auswich.
Es war nicht der Verehrer mit der Schmalztolle, mit dem ich sie anfangs gesehen hatte. Aber ebenfalls ein Weißer, einer, dessen Macht über sie nicht zu übersehen war, nicht einmal für den Mann am Klavier. Teresa sang »I don't like you, but I love you«. Ich trottete mit ihr dahin, löste dann und wann eine Dissonanz auf, überlegte, ob ihre Zurückhaltung mir galt oder dem anderen, dem Mann, den ich noch nie gesehen hatte und der auch nicht aussah, als ob ich ihn gern kennen lernen wollte. »You really got a hold on me.« Sämtliche Dämonen, die die Musik doch im Bann halten sollte, all die Dinge, die sie gefangen hielten, kamen in dieser Melodie zum Ausdruck. Gegen Ende wurde sie immer verhaltener, flüsterte die letzte Zeile fast nur noch, traute sich nicht aufzublicken. Als sie es schließlich doch tat, erhob der Mann sich von seinem Platz. Er beugte sich vor, und es sah aus, als spucke er, auch wenn ich nichts aus seinem Mund kommen sah. Dann ging er zur Tür.
Teresa drehte sich zu mir um und rief etwas. Panik und der Applaus verhinderten, dass ich sie hörte. Sie rief noch einmal: »›Ain't Misbehaving« Ich habe nichts Böses getan. Das einzige Mal, dass ich ein Kommando von ihr bekam. Ich griff gehorsam in die Tasten, meine Finger marschierten. Aber es war zu spät. Der Mann war fort. Auch wenn sie sie selbst bestellt hatte, würgte Teresa die Melodie nun ab. Sie sang tapfer bis zum Ende, aber die Unschuld kam nur noch verzerrt heraus.
Später wartete sie auf mich, als sei nichts geschehen. Und was war denn schon geschehen? Aber es nagte an mir, und als sie in ihrer schüchternen, ängstlichen Art fragte, ob ich mit ihr nach Hause kommen wolle, antwortete ich: »Ich denke mir, du hättest mich lieber nicht bei dir.«
Sie sah mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. »Warum sagst du das?«
»Ich könnte mir vorstellen, du bist lieber allein.«
Sie fragte nicht nach Erklärungen, sondern ging wortlos fort. Das machte mich nur umso wütender. Ein paar Abende darauf war sie wieder im Club, aber ich ging in den Pausen nicht zu ihr und bat sie auch nicht zu singen. Danach blieb sie eine Woche lang fort. Ich vergrub mich in meiner Wohnung und wartete auf ihren Anruf. Als der Anruf nicht kam, sagte ich mir, dass die Sache damit wohl erledigt war. Wer konnte schon wissen, was geschehen war? Keiner von uns weiß auch nur das Geringste über einen anderen.
In der folgenden Woche wartete sie vor dem Club, als ich zur Arbeit kam. Sie hatte ihren Kittel aus der Bonbonfabrik an. Ich sah sie schon aus einem ganzen Häuserblock Entfernung, hatte Zeit genug, mich auf meinen Einsatz vorzubereiten. »Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«
»Joseph. Wir müssen reden.«
»Müssen wir das?«
Mit einem Male war ich der Schläger, der uns im Winter am Strand zugesetzt hatte. Mit zusammengekniffenen Augen schleuderte sie mir ihre Worte entgegen. »Du eingebildeter kleiner Pinscher.« Sie packte mich und versetzte mir einen Stoß. Dann lehnte sie den Kopf an die Clubwand und weinte.
Ich rührte mich nicht. Es brachte mich fast um, aber ich zwang mich, sie nicht anzufassen. Ich hätte alles für sie getan, und trotzdem verriet sie es mir nicht. Die Selbstgerechtigkeit hatte mich fest im Würgegriff. Ich wartete, bis Teresa sich beruhigte. »Wolltest du mir etwas sagen?«
Wieder begann sie zu schluchzen. »Was willst du hören, Joseph? Was?«
»Ich habe dich nie nach deinem früheren Leben gefragt, Teresa. Aber gibt es da alte Geschichten? Du könntest so anständig sein und mir sagen, was los ist.«
»›Alte ...‹«
Sie wollte es nicht gestehen. Ich fühlte mich betrogen – von ihr, von den Regeln des Anstands, von ihrem hübschen Gesang, von der geschwungenen Regenbogenlandschaft ihres Leibs. »Willst du mir nicht von dem Burschen von neulich erzählen?«
»Dem ...« Ihre Verwirrung war vollkommen. Dann hellten sich ihre Züge auf. »Joseph! Ach, Joe! Ich dachte, du ... ich dachte, das sieht je- der ...«
»Was ? Was sieht jeder ? Wieso hast du nicht ein einziges Wort gesagt? Oder ist es ein großes
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