Der Klang der Zeit
weiß es nicht. Wer Sie sind, meine ich.«
Sei duftete süß, ein undefinierbarer Geruch. Ihr Gesicht lief hibiskusrot an, und sie drehte eine pechschwarze Haarsträhne verlegen um den Finger. Dann verriet Teresa Wierzbicki mir ihren Namen.
Inzwischen war es ernsthaft Winter geworden; die Stadt war wie ausgestorben. Aber wir machten Spaziergänge am Strand, als wäre es schönster Frühling. Sie war in der Gegend groß geworden und arbeitete tagsüber in der Konfektfabrik, nach den Muscheln und Krebsen die älteste Attraktion des Ortes. Karamell war ihr Parfüm, sie trug es vierundzwanzig Stunden am Tag. Ihr Arbeitstag endete um fünf Uhr, wir trafen uns um sechs, machten unseren Spaziergang bis sieben, und um acht ging dann ich zur Arbeit. Ohne Planen wurde eine Routine daraus, zweimal die Woche. Ich hätte ihr stundenlang zuhören oder zusehen können. Sie wandte beim Gehen den Blick zur Seite, beobachtete mich, als könnte ich ihr entwischen, bewegte sich mit steifem, perzverbräm–tem Staunen.
Ein paar Mal wollte ich sie zum Essen ausführen, aber anscheinend aß sie nie. Sie war schüchtern, wenn sie mit mir sprach. »Meine Stimme klingt schrecklich«, entschuldigte sie sich bei dem Sand unter ihren Füßen. »Rede du. Ich höre dir gern zu.« Am liebsten mochte Teresa die Spaziergänge am windigen, menschenleeren Meeresufer; mager, zu dünn angezogen, hielt sie die Nase in den Wind, summte unablässig dabei, und ich ging frierend nebenher und fühlte mich auffälliger als je zuvor.
Ich hatte Angst, wenn die Leute uns zusammen sahen. Schließlich waren wir nicht in New York, und mit den Spaziergängen am Strand forderten wir den Ärger regelrecht heraus. Hätten wir es in der Saison getan, wäre ich gelyncht worden, Teresa wäre wieder allein an den Gestaden gewandelt und Mr. Silber hätte seinen Laden zumachen müssen. In der Nachsaison war es den meisten, die noch da waren, egal. Aber trotzdem zogen wir auch jetzt noch so viele giftige Blicke auf uns, hätten damit unsere eigene Schlangenfarm betreiben können. Das war das Gefühl, das meine Eltern jeden Tag ihres gemeinsamen Lebens ertragen hatten. Und ich hätte nie so sehr lieben können, dass ich das überstanden hätte.
Das einzige Mal, dass wir wirklich angesprochen wurden, von einem dicken älteren Mann, der aussah, als könne ihm auch die größte Rassen-mischung nicht mehr weiter schaden, ließ Teresa eine derartige Schimpf-kanonade los – etwas über Christus am Kreuz, geifernde Greise und einen Fleischerhaken –, dass auch ich am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Unter ihren Flüchen machte der Mann sich davon, fuchtelte nur noch wild mit den Armen. Mit gespielter Lässigkeit gingen wir weiter. Ich schwieg betreten, bis Teresa zu kichern begann.
»Meine Güte, wo hast du so fluchen gelernt?«
»Meine Mutter war früher Nonne«, erklärte sie.
Aber sie war ein Unschuldsengel. Sie hätte dem Papst unter die Soutane kriechen können, und ich wäre mir trotzdem sicher gewesen. Wir berührten uns nie. Sie fürchtete sich vor mir. Ich dachte, ich wüsste warum. Aber das stimmte nicht, und ich brauchte Wochen, bis ich auf die echte Erklärung kam. Ich war ein Unnahbarer für sie, ein Stern am umgestülpten Goldfischglas ihres Firmamentes. Mein Name erschien in der Zeitung, in den Anzeigen des Glimmer Room. Es gab eine Menge Leute in der Stadt, die wussten, wer ich war, ja die meinetwegen in den Club kamen. Außerdem war ich ein echter Musiker, mit einer Ausbildung und allem, jemand der schon nach einmal Hören Lieder genauso nachspielen konnte, wie sie im Radio klangen.
Terrie konnte keine Noten lesen. Aber trotzdem ist mir kaum je ein musikalischerer Mensch begegnet. Sie verfolgte das Auf und Ab der Hitparaden mit einem Ernst, den die meisten Menschen den Gedanken an ihren eigenen Tod vorbehalten. Ein einziger verminderter Akkord an der richtigen Stelle öffnete ihr das Herz, und die Seele kam zum Vor-chein. Musik stieg aus dem Erdboden auf und bemächtigte sich ihrer Füße. Wenn sie für längere Zeit von Musik abgeschnitten war, verlor sie alle Energie. Aber schon der einfältigste Trip von Tonika zu Dominante und zurück ließ ihre Lebensgeister neu erwachen.
Sie saugte einen Song aus bis auf die letzte Kalorie. Und von irgendetwas musste sie sich ja ernähren. Sie lebte von Akkordfolgen und von den Ausdünstungen ihrer Bonbonfabrik. An Wochenenden kochte sie mir in ihrer Wohnung etwas, verbrachte den ganzen Sonntag mit dem Radio in
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