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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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der Küche und zauberte schwere Cremesuppen oder Nudelgerichte mit Meeresfrüchten. Ihre Linguini mit weißer Muschelsoße muss-en einst in Atlantis auf den Tisch gekommen sein. Dann setzte sie sich mir gegenüber an den wackligen Klapptisch, eine Kerze zwischen uns, mein Teller mit Essen voll geladen, ihrer mit zwei Häppchen, die sie hin-und herschob, bis sie sich irgendwie in Luft auflösten.
    Bei jedem meiner Besuche musste ich mich neu an den Geruch gewöhnen. Das Aroma von Karamell, von all den Süßigkeiten, die sie am Fließband herstellte, war bis in Möbel und Wände gedrungen. Wenn mir übel von so viel Süße wurde, drängte ich sie zum nächsten Spaziergang über den eiskalten Bohlenweg. Wir machten lange Fahrten in ihrem Dodge, bis hinunter zum Cape May und hinauf nach Asbury Park. Hauptächlich hörten wir dabei Radio. Der Dodge hatte einen Empfänger mit fünf kleinen Kunststofftasten, die, wenn man fest drückte, die rote Plastiknadel auf der Skala zu ihren fünf Lieblingssendern schnellen ließen. Mit Gusto hielt sie mit der rechten Hand das Steuerrad und reichte mit der linken – überkreuz wie in einer vertrackten Scarlatti-onate – hinüber und suchte den perfekten Soundtrack für ein bestimmtes Straßenstück: Country & Western, Rock' n' Roll, Rhythm & Blues oder, am häufigsten, jahrzehntealten rauchigen Jazz. Sie hörte sich alles an, was gefühlvoll genug war, und mochte es. Und mir machte selbst die ab-gedroschenste Melodie Freude, wenn sie sie mit ihrer klaren, zerbrech-lichen Stimme sang.
    Ihre Plattensammlung stellte die, die Jonah und ich seit Jugendtagen zusammengetragen hatten, weit in den Schatten. Genau wie bei ihren Autofahrten ging es darin kreuz und quer. Mehrere Besuche lang mühte ich mich vergebens, das Prinzip herauszufinden, nach dem sie geordnet waren. Als ich es schließlich aufgab und sie fragte, lachte sie verlegen. »Nach Stimmung.«
    Ich ließ den Blick an der Reihe entlangwandern. »Du meinst, ob es fröhliche oder traurige Musik ist?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ob sie mich fröhlich machen.«
    »Wirklich?« Sie nickte, in der Defensive. »Dann verändern sie ihre Position?« Ich sah noch einmal hin, und es wurde eine große Billboard-Liste daraus, eine Hitliste der Stimmungen dieser Frau.
    »Sicher. Jedes Mal, wenn ich eine rausnehme und spiele, bekommt sie hinterher einen neuen Platz.«
    Ich hatte es gesehen und gar nicht begriffen, was sie da tat. Ich lachte und hasste mich sogleich dafür, als ich sah, was das Lachen auf ihrem Gesicht auslöste. »Wie kannst du da etwas wieder finden?«
    Sie sah mich an, als sei ich schwer von Begriff. »Ich weiß doch, was ich mag, Joseph.«
    Und das stimmte. Ich beobachtete sie. Sie zögerte kein einziges Mal, weder wenn sie etwas hervorholte noch wenn sie es zurückstellte.
    Einmal, an einem Sonntagabend, als Teresa in der Küche war und einen glasierten Schinken briet, erforschte ich dieses Spektrum ihrer Glückseligkeit. Die Regel, die ich selbst schon im Glimmer Room herausgefunden hatte, fand ich hier in der Reihenfolge der Platten bestätigt. Petula Clark war ganz nach links in die Vorhölle verbannt, Sarah Vaughan thronte am anderen Ende der Skala. Kalt, hell und neu hatte bei Teresa keine Chance. Sie mochte es dunkel, verraucht, je älter desto besser.
    Düstere Gedanken stellten sich ein. Ich täuschte diese Frau, die sich gerade mit einem Braten für mich mühte, ich war unter falschen Vorzeichen in ihre Wohnung gekommen. Ich hatte mir nie überlegt, was für ein Spiel wir beide spielten, welches Bild sie sich von mir gemacht hatte, bevor wir uns auch nur an den Händen berührt hatten. Jetzt sah ich den Menschen vor mir, für den sie mich all die Wochen gehalten hatte, einen armseligen Hochstapler, und ich konnte mir ausmalen, was geschehen würde, wenn sie dahinter kam, wer ich wirklich war.
    Ich sah mir die Platten am oberen Ende der Sammlung genauer an, den Olymp ihres Pantheons: Musik, die nur ein paar Straßen von dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, gespielt wurde, während wir mit Byrd und Brahms groß wurden, den Lektionen des Strom-Experimentes. Sie liebte all das, was ich nur in den paar flüchtigen Monaten kennen gelernt hatte, in denen es Jonah in seiner Unruhe in die Village-Jazzclubs gezogen hatte, in der kurzen Zeit, in der das für uns schon als Tabubruch galt. Aber Teresa glaubte, das sei meine Musik, das habe ich im Blut, in meinen Fingern, dabei stahl ich es nur von Schallplatten, gerade

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