Der Klang der Zeit
rückte zur Seite, damit sie sich aufs Bett setzen konnte. »Ich bin schon spät dran. Der Schlüssel ist in der Spieldose auf der Anrichte, wenn du ihn brauchst.«
Ich nahm ihre Hand, als sie sich erhob. »Ich muss dir noch was sagen.«
»Psst. Ich weiß.«
»Mein Vater ist weiß.«
Das war nicht das, was sie erwartet hatte. Aber staunend sah ich, wie schnell ihre Überraschung verschwand. Sie rollte mit den Augen. Solidarität der Unterdrückten. »Das ist ja 'n Ding. Meiner auch.« Sie beugte sich noch einmal herunter und küsste mich auf den Mund. Ich spürte ihre Lippen, überlegte, wie sich meine wohl für sie anfühlten.
»Kommst du heute Abend?«, fragte ich.
»Kommt drauf an. Spielst du die guten Sachen?«
»Wenn du singst.«
»Oh«, sagte sie, schon in der Tür. »Ich singe alles.«
Ich zog mich an und machte das Bett, zog die Laken über unseren noch feuchten Flecken glatt. Ich hüpfte durch ihre Wohnung wie ein glücklicher Einbrecher, der diese Neue Welt einfach nur ansehen wollte. Ich betrachtete all ihre Sammlerstücke, ein Privatrundgang durch ein entlegenes ethnographisches Museum. Ihr Leben: Keramikfrösche, eine Uhr in Sonnenform, violette Badetabletten und Schwämme, Hausschuhe mit aufgestickten schielenden Augen, ein Buch über die pittoresken Scheunen von Ohio mit der Widmung »Alles Gute zum Geburtstag von Tante Gin und Onkel Dan. Vergiss nicht, du wolltest uns besuchen!« Unter uns bleiben wir Fremde. Die Rasse sorgt nur dafür, dass es sichtbar wird.
Ich öffnete ihren Schrank und betrachtete ihre Kleider. Eine Reihe Unterröcke hing an Haken entlang einer Wand, schwarze und weiße Schläuche, deren Säume manchmal unter ihren Kleidern hervorblitzten und die sich an sie schmiegten wie eine zweite Haut. Ich ging in die Küche und schnitt mir zum Frühstück etwas von dem Schinkenbraten ab. Ich aß ihn kalt, ich wollte keinen von ihren Kochtöpfen schmutzig machen. Ich war schon oft in der Wohnung gewesen, aber noch nie allein. Ich wusste, was die Polizei mit mir machen würde, wenn ein geset-zesfürchtiger Nachbar ihnen einen Tipp gab. Allein dafür, dass ich hier in der Wohnung dieser fremden Frau war, hätten sie mich für alle Ewigkeit hinter Gitter gesteckt. Es wäre vernünftig gewesen zu gehen. Aber wenn ich ging, konnte ich nur zu meinem eigenen Leben zurück.
Ich ging zu ihrer Plattensammlung, dem sichersten Ort in diesem Haus voller Sprengsätze. Es gab kein einziges Stück klassische Musik in ihrer Wohnung, außer ein paar aufgepeppten Melodien, die längst Allgemeingut geworden waren. Ich begann meine Suche in den obersten Rängen ihrer Charts, wollte einen Song finden, den ich am Abend im Club für sie spielen konnte, etwas das ich nur für sie lernen würde. Ich legte Thelonious Monk auf und wusste, dass jede Note von ihm meine dürftigen Fähigkeiten überforderte. Oscar Peterson: Ich lachte nach vier Takten, begeistert, entmutigt. Ich spielte Armstrong und die Hot Seven, eine Platte, deren Rillen Teresa beinahe glatt geschabt hatte. Ich dachte, ich wusste alles über den Mann und seine Musik, aber das Wenige, was ich wusste, tauchte unter in der Flut der Töne. Ich hörte mir Musiker an, die ich nur dem Namen nach kannte: Robert Johnson, Sidney Bechet, Charles Mingus. Ich ließ mich von den leidenschaftlichen Noten eines Thomas A. Dorsey umbranden. Ich öffnete Teresas Schatzkästchen mit Bluesplatten: Howlin' Wolf, Ma Rainey. Junior Wells' Mundharmonika schnitt mich mit ihren Zungen in Streifen. Ganz oben waren die Hohepriesterinnen versammelt. Carter, McRae, Vaughan, Fitzgerald: In jeder dieser Stimmen hörte ich Teresa klagen und jubilieren, hörte, wie sie sich in der vertrauten Ekstase verlor, jeden Abend, wenn sie aus der Fabrik nach Hause kam, wie sie sang, bis ihr wahres Ich hervorkam, im Dunkeln allein.
Stundenlang hörte ich Musik. Song folgte auf Song in solchem Tempo, dass sie sich schließlich alle gegenseitig durchdrangen. Das ganze klaus-trophobische klassische Repertoire konnte dieser Musik in Breite, Tiefe, Höhe nicht das Wasser reichen. Ein gewaltiges Halleluja drang aus Teresas Lautsprechern, ein Schwall, der jedes Flussbett überschwemmte, das dieses Land sich ausdenken konnte, um ihn einzudämmen. Das war nicht eine einzige Musik. Es waren Millionen von Musiken. All diese Lieder, alle eine große Familie, Begrüßungs- und Abgesang auf der größten Party aller Zeiten, bis in die frühen Morgenstunden im Nie-mandsland dieser Nation. Das war das
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