Der Klang der Zeit
von denen, die das Maß ihrer Verletzung ermessen können. Dieser entsetzliche Abend – David und ihr Vater, wie sie die Anschuldigungen aufrechnen: eine Olympiade des Leidens. Schmerz als moralisches Druckmittel. Zwei Männer, die nicht verstehen, wie ähnlich sie sich sind. Eigentlich sollten die beiden jetzt hier sitzen, an diesem Tisch einander gegenüber. Nicht diese alte Allianz der Unterdrückten, Mütter gegen Männer. Delia blickt ihrer Mutter ins Gesicht, forscht nach einem kleinen Beweis, dass die alte Allianz noch gilt. »Er mag die Art nicht, wie ich meine Kinder großziehe.«
»Es gefällt ihm nicht, dass du den Leoparden ihre Flecken abschrubben willst.«
»Mama«, fleht sie. Sie senkt den Blick.
»Mädels? Seht mit euren Neffen mal nach, ob es diesen Kaugummiautomaten bei Lowie noch gibt.« Sie fischt in ihrer Tasche nach zwei Fünfern, mit denen ihre Enkelkinder den Automaten füttern können. Dasselbe Samstagsritual, das sie und Delia schon vor Urzeiten zusammen spielten.
Delia sucht in ihrer eigenen Tasche, will ihrer Mutter zuvorkommen. »Hier. Hier, nehmt das hier.«
Die Zwillinge wollen von keiner von beiden Geld. »Wir sind doch keine Kinder«, sagt Lucille.
Lorene schlägt in die gleiche Kerbe. »Jetzt komm schon, Mama. Wir wissen doch, was los ist.«
Nettie Ellen fasst die beiden mit einer verschwörerischen Geste. »Weiß ich das denn nicht, Kind? Aber eure Neffen, die brauchen ein wenig Beistand.«
Dieser unterschwellige Appell bezwingt die beiden. Sie schnappen sich die Jungen, so wie sie es zu Kriegszeiten immer getan haben, als sie die beiden Kleinen in Kinderwagen durchs Viertel schoben. Sie stellen ihre Schwester in den Schatten, sie zeigen, wie bedingungslos Liebe sein soll. Dann sind Delia und ihre Mutter allein. Allein wie damals in ihrem Probenraum unter dem Dach, als Delia zum ersten Mal von dem Mann erzählte, in den sie sich verliebt hatte. Wie prachtvoll ihre Mutter sich damals gehalten hatte, nach dem ersten Schock. Wie solide, wie vernünftig diese Frau war, der doch die Geschichte nichts außer ewigem Misstrauen ans Herz legte. Wie gut sie alle gewesen sind, ihre Familie. So schwarz, dass alle Flecke darin verschwinden.
»Ich bin so müde, Mama.«
»Du? Von was willst du denn müde sein?« Der Tadel nicht zu überhören: Ich war schon müde, bevor du überhaupt auf der Welt warst. Ich habe dich nicht großgezogen, damit du klein beigibst.
»Ich halte es einfach nicht mehr aus, dass sich immer alles nur um die Rasse dreht, Mama.« Der Fisch und der Vogel können sich verlieben. Aber das einzige Nest, das diese Welt ihnen zugesteht, ist kein Nest.
Eine goldbraune Kellnerin kommt und nimmt ihre Bestellung auf. Nettie Ellen bestellt, was sie immer bei Haggern's bestellt, schon seit ewigen Zeiten. Einen schwarzen Kaffee und ein Stück Blaubeerkuchen. Delia nimmt ein Schokoladen-Doughnut und ein kleines Glas Milch. Ihr ist nicht nach essen zumute, und sie wird es nicht herunterbringen. Aber sie muss es bestellen. Sie hat es jedes Mal bestellt, wenn sie hier war. Die Kellnerin geht mit beschwingten Schritten, und Nettie Ellen sieht ihr nach. »Du hältst es nicht aus, dass du farbig bist. Das ist es.«
Delia betrachtet die Anschuldigung, probiert sie an wie ein Kleid. Eine Gefängniskluft. Etwas Gestreiftes. »Ich halte es nicht mehr aus, dass jeder glaubt, er weiß, was farbig ist.«
Ihre Mutter sieht sich in dem Lokal um. Ein Junge, noch keine zwanzig, in weißer Hose, weißem Hemd und mit einer kleinen Papiermütze auf dem Kopf, steht am Grill. Zwei alte Kellnerinnen auf stämmigen Beinen tragen Teller vom Tresen zu den Holztischen. Ein junges Paar am Tisch gegenüber steckt die Köpfe zusammen, trinkt mit zwei Strohhalmen aus einem gemeinsamen Glas Limonade. »Wer sagt das ? Hier sagt dir be-stimmt keiner, was farbig ist. Nur die Weißen tun das. O-fay.«
Ihre Mutter spricht das Hasswort, für das sie Delia einmal, mit zwölf, den Mund mit Seife ausgewaschen hat. Etwas hat sich verändert. Entwe-der die Regeln oder ihre Mutter. »Meine Jungen sind ... anders.«
»Sieh dich doch um, Kind. Jeder hier ist anders. Kein Mensch ist wie der andere.«
»Ich muss ihnen die Freiheit geben, dass sie –«
Ihre Mutter sieht sie grimmig an. »Komm mir ja nicht mit Freiheit. Dein Bruder ist im Krieg geblieben – für das Wort. Ein Schwarzer, der für die Freiheit von fremden Menschen in fremden Ländern gekämpft hat, und hier zu Hause hätte er die Freiheit nie bekommen,
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