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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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bevor er den Hut abgesetzt hat. »Das ist nicht für immer«, sagt er. »Wir kommen alle wieder zusammen, alle am selben Ort.« Aber es kann kein wiedergeben, da sie nie zusammen waren. Nicht alle am selben Ort. Kein einziges Mal.
    Nach Abendessen und Singen, nach Radio und den Gutenachtgeschichten für die Jungen liegen sie nebeneinander im Bett. Sie reden bis tief in die Nacht, leise, damit sie die Jungen nicht wecken. Ihr Jojo hört es aber doch. Die Worte gehen ein in ihre Träume und werden sie quälen bis zum letzten Tag.
    »Er ist wütend auf mich«, sagt David. »Aber ich finde, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe getan, was mein Land von mir erwartete. Was jeder an meiner Stelle getan hätte.«
    Das macht nun sie wütend. Er tut, als sei ihr Daddy im Unrecht. Er sollte sich entschuldigen, selbst wenn er im Recht ist. Gerade weil er im Recht ist. Einen Moment lang hasst sie beide, weil beide sie im Stich lassen. »Er ist wütend auf mich«, flüstert sie zurück. Aber sie sagt nicht warum. Auch das ist verlorenes Vertrauen. Dass sie glaubt, David werde es nie verstehen.
    »Wir können ihn morgen anrufen. Ihm erklären, dass es alles eine Ver-wirrung war. Ein Missverständnis.«
    »Das war es nicht«, zischt sie. »Es war kein Missverständnis.« Sie spürt, wie der Körper ihres Mannes sich spannt, die ersten Anzeichen des Ärgers über sie, darüber, dass sie widerspricht. Muss denn jeder Mensch seine Vergeltung haben?
    »Was ist es dann?«
    »Ich weiß es nicht. Es ist mir egal. Ich kann das alles nicht mehr hören. Ich will nur einfach fertig sein damit.«
    Seine Hand kommt über die Bettdecke und findet die ihre. Er glaubt, sie meint den Streit vom Vorabend. Ein lokales Scharmützel. »Es wird vorübergehen. Es muss. Wie kann eine solche Wut für immer bestehen ?«
    Er glaubt, sie meint den Rassenhass. »Es ist ja schon vorüber.«
    Er hört ihr zu. Das muss man ihm zugute halten. »Du wünschst dir, dass es vorüber ist. Aber wie sollte es enden? Wie sollte eine bessere Welt aussehen? Ich meine, tausend Jahre von heute? Zehntausend? Wie wäre es richtig? Wie sähe der Ort aus, nach dem wir suchen müssen?«
    Das hat sie sich im Grunde nie klargemacht, nicht einmal sich selbst, geschweige denn einem anderen. An jedem perfekten Ort, der ihr einfällt, sieht sie schon die Schlange, wie sie sich im Grase windet. Sie will nicht mehr weiterreden, will sich nur noch auf die Seite drehen und schlafen. Sie weiß keine Antwort. Aber er fragt sie. Darum geht es, um die Bedingungen des Kontrakts, den sie aushandeln müssen.
    »Der richtige Ort ... der Ort, den ich mir vorstelle ... Das wäre ein Ort, an dem niemand Herr über einen anderen ist. Niemand besitzt etwas allein. Niemand fühlt sich überlegen. Jeder ist einfach nur er selbst.«
    Sie schließt die Augen. Das ist der Ort, der ihr ein wenig Ruhe verschafft. Der Einzige, an dem sie leben kann. Der einzige vernünftige Landeplatz. Wenn es der richtige Ort für das Leben in tausend Jahren ist, warum dann nicht auch für ihre Jungen? Denn Geduld ist Unterwerfung, und wer wartet, wartet vergebens.
    »Dann ist das der Ort, an dem wir leben wollen. Morgen rufen wir deinen Vater an.«
    »Er wird das ... nicht verstehen.«
    »Wir rufen an. Wir reden mit ihm.«
    Was für eine Einfalt. Ihr Vater hat Recht, in jedem einzelnen Punkt. Sie will der Wahrheit ja nicht ins Gesicht sehen, sie will sich daran vorbei-mogeln. Sie hat kein Recht, ihn anzurufen und mit ihm zu reden. Das Einzige, was ihr noch zusteht, ist unerbittlicher Tadel.
    »Vergiss nicht, was wir gesehen haben«, sagt David. »Vergiss nicht, wie die Zukunft aussieht.«
    Aber sie ist sich nicht einmal mehr sicher, ob das, was sie gesehen haben, überhaupt von dieser Welt war. Nein: Es ist zu früh für dieses Leben, es ist zu weit fort, zu weit, als dass ihre Kinder es je erreichen könnten. Etwas in diesem Land braucht die Rasse. Ein tief verwurzeltes Stammesdenken, etwas, das in den Seelen steckt und sich in nichts Größerem und nichts Kleinerem sicher oder geborgen fühlt. An dem Tag, an dem die Gewalt sie einholt, dem Tag an dem ihre Jungen mit Jahrhunderten des Mordens Bekanntschaft machen, werden sie sie dafür hassen, dass sie sie nicht mit einer Kaste für diese kastenbesessene Gesellschaft ausgestattet hat. Aber bis zu dem Tag wird sie ihnen – so weltfremd, so aussichtslos das sein mag – eine eigene Persönlichkeit geben. Das Traumbild für Wirklichkeit nehmen.
    Sie wird die Wurzeln ihrer

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