Der Klang der Zeit
er sich bei uns blicken lassen. Keinen Cent hat er uns je gegeben, damit aus den Kindern mal was wird. Könnte jeder gewesen sein. Könnte der Großvater von deinem eigenen Mann gewesen sein.«
Delia lacht, aber es kommt ein grässlicher Laut heraus, ein tiefes Gurgeln. »Nein, Mama. Davids Großvater ... war nie in seinem Leben in Carolina.«
»Willst du mir auch noch Widerworte geben?«
»Nein, Mama.«
»Aber das ist was, was ich nie verstanden habe. Wenn Weiß so allmächtig ist, wieso wiegt dann ein Dutzend von ihren Urgroßvätern nicht einen einzigen von unseren auf?«
Nun muss Delia doch lächeln. »Das ist doch genau, was ich sage, Mama. Jonah und Joey, die Hälfte von dem, was sie ... kommen sie denn nicht genauso –«
»Habt ihr irgendwas von seinen Eltern gehört?«
David hat hundert Briefe geschrieben, in Dutzenden von Archiven nachforschen lassen: Rotterdam, Westerbork, Essen, Köln, Sofia – all der Untergang, mit deutscher Gründlichkeit in Akten festgehalten. »Bisher nicht, Mama. Aber wir geben nicht auf.«
Beide Frauen lassen die Köpfe hängen. »Weiße haben ihre Großeltern umgebracht. Das kannst du nicht vor ihnen verheimlichen. Du kannst sie nicht belügen. Sie müssen auf die Welt vorbereitet sein. Mehr will dein Vater doch gar nicht sagen, Kind.«
»Es bleibt nicht immer so. Die Dinge ändern sich, selbst jetzt, in dieser Minute. Wir müssen dafür sorgen, dass die Zukunft kommt. Sie kommt nicht von selbst.«
»Zukunft! Das Hier und Jetzt, um das müssen wir uns kümmern! Bisher haben wir ja nicht mal das!«
Delia sieht sich um, ein ganzes Lokal voller Leute ohne Gegenwart. Sie weiß nicht wie, aber wenn sie ihre Söhne singen hört, wenn sie auf ihre kleinen Entdeckungsreisen ins Reich von Kanon und Imitation gehen, dann findet sie ihr Hier und Jetzt, und es ist groß genug, um darin zu leben.
Und mit dem verblüffenden Gespür, das Delia so oft das Leben schwer gemacht hat, als sie noch jung war, liest ihre Mutter ihre Gedanken. »Ich habe mich nie darum gekümmert, welche Musik du singst. Ich habe es nie verstanden. Aber alles, was du gesungen hast, war gut, solange es von Herzen kam. Und solange du dich nicht deswegen für etwas hieltest, was du nicht warst. Für was sollen die Jungen sich halten?«
»Darum geht es doch, Mama. Wir wollen es ihnen nicht vorschreiben. Dann müssen sie niemals von einem anderen –«
»Weiß? Du erziehst sie als Weiße?«
»Unsinn. Wir wollen sie ... für eine Welt erziehen, in der die Farbe nicht mehr zählt.« Die einzige stabile Welt, die einzige, in der sie überleben können.
»Das heißt weiß. Nur Weiße können glauben, dass so etwas nicht mehr zählt.«
»Nein, Mama. Wir erziehen sie ...« Sie sucht nach dem richtigen Wort, aber das Einzige, was sie findet, ist nichts. »Sie sollen das werden können, was in ihnen steckt. Sie selbst. Das kommt an erster Stelle.«
»Kein Mensch ist so wichtig, dass er sich selbst an erste Stelle setzen sollte.«
»Mama, das meine ich doch nicht.«
»Kein Mensch soll sich das einbilden.« Vier lange Takte Schweigen. Dann: »Was bekommen sie von dir, für all das, was du ihnen wegnimmst?«
War es wirklich Diebstahl? Mord? Die Kinder kommen zurück und retten Delia vor der Antwort. Sie kommen hereingetobt, alle vier in bester Laune. Die Mädels tun, als seien sie riesige mechanische Krallen, die quietschenden Neffen die wehrlosen Kaugummikugeln. Mit nichts als einer gehobenen Augenbraue bringt Nettie Ellen sie zur Ordnung.
»Omama«, sagt Jonah, »die Tanten sind verrückt!«
Sie legt den Arm um den Jungen, streichelt sein fremdartiges Haar. »Wieso sind sie verrückt, Kind?«
»Sie sagen, eine Eidechse ist nur eine Schlange mit Beinen. Und sie sagen, singen ist genau wie sprechen, nur schneller.«
Ihre Kellnerin kommt und fragt, ob die Kinder etwas wollen. Sie ist verblüfft, als sie die Jungen anschaut. Delia sieht, wie sie sie mustert, die Hautfarbe taxiert, sich gottweißwas für eine Geschichte als Erklärung zurechtlegt. Die Kellnerin zeigt auf Jonah. »Das ist aber nicht der, auf den ich warten soll, oder?«
Nettie schüttelte den Kopf, Delia senkt den Blick, Tränen in den Augen.
Die Kinder bekommen Kuchen. Eine Viertelstunde lang sind Delia, ihre Mutter, ihre Schwestern und ihre Kinder glücklich vereint, reden, essen, brauchen für nichts außer füreinander einen Namen. Sie und ihre Mutter wollen beide die Rechnung zahlen. Sie überlässt sie ihrer Mutter. Dann stehen sie
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