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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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draußen, auf dem Bürgersteig vor Haggern's. Delia schmiegt sich an ihre Schwestern, wartet auf die Einladung – Natürlich, Kind! –, mit in das große Haus zu kommen, nur ein paar Straßen entfernt. Ihr Zuhause. Sie wartet eine entsetzliche Ewigkeit lang auf dem schwan-kenden Asphalt.
    »Mama«, hebt Delia an, die Stimme so angespannt wie am Tag ihrer ersten Gesangstunde. »Mama. Ich brauche deine Hilfe. Bring mich wieder mit Vater zusammen.«
    Nettie Ellen packt sie energisch an den Ellbogen, heftig von der Erregung. »Das ist nicht schwer. Ihr habt euch doch gar nicht zerstritten. Nur eine Meinungsverschiedenheit. Wie es im Buche steht: ›Auch das geht vorbei.‹ Du rufst ihn einfach an und sagst ihm, dass es dir Leid tut. Dass du im Unrecht warst.«
    Delia spannt sich. Das ist die Bedingung, wenn sie dazugehören will: Sie und ihr Mann, das, worüber sie nachgedacht und was sie entschieden haben, müssen als falsch hingestellt werden. Vielleicht war es ja falsch, was sie entschieden hat, vielleicht war jede ihrer Entscheidungen falsch, aber richtig ist auf jeden Fall, dass sie auf ihrem Recht besteht, diese Entscheidungen zu fällen. In der einen Welt, die es wert ist, dafür zu kämpfen, gehört jedem jedes Lied. Das hat ihr Vater ihr vor langen Jahren klargemacht, und jetzt sorgt er dafür, dass sie sich auch daran hält.
    Sie gehen ihrer Wege, in verschiedene Richtungen – Nettie und die Zwillinge zum Haus des Doktors, Delia und die Jungen zum Zug nach New York. Zum Abschied umarmt Delia noch einmal ihre Schwestern. »Tut mir den Gefallen und wachst nicht so schnell. Schließlich will ich euch ja noch wiedererkennen, wenn ich euch das nächste Mal sehe.«
    Sie versucht es – versucht ihren Vater anzurufen. Sie wartet noch eine Woche, hofft, dass in den sieben Tagen die Messer stumpfer werden. Aber schon die ersten Worte des Telefonats sind eine Katastrophe, und von da an wird es nur noch schlimmer. Am Ende sagt auch sie entsetzliche Dinge, Dinge, die zu sagen sie gar nicht imstande ist, Dinge die nur dazu da sind, dass sie sie für alle Zeiten bereut.
    Die Zeit der Niederkunft kommt. Am liebsten würde sie sich in Stein verwandeln. Sie möchte sich ins Bett legen und nie wieder aufstehen. Nur die Jungen halten sie aufrecht. Nur die Vorfreude darauf, dass sie Gesellschaft bekommen. Sie schreibt Nettie Ellen einen weiteren Brief, ganz Tochter ihrer Mutter.
     
    Mama,
    das Baby kommt. Diese Woche oder nächste ist es soweit. Länger kann ich es nicht mehr halten. Ein starkes Kind. Wahrscheinlich kommt es auf seinen Großvater und will unbedingt raus in die Welt. Es wäre so schön, wenn du wieder helfen könntest, wie bei Jonah und Joey. Es wäre eine große Hilfe, wenn eine Frau da wäre, die sich um die Jungen kümmern kann. Du weißt ja, wie hilflos Männer sind, wenn es hart auf hart kommt. David wäre auch froh. Sag mir, was wir tun können, damit es möglich ist. Es wäre doch nicht richtig, wenn wir dein neues Enkelkind bekämen und du wärest nicht dabei! Deine Delia.
     
    Jede Manipulation ist erlaubt. Sie ist zu allem bereit, was Versöhnung verspricht. Und nicht im Mindesten auf die Zeilen vorbereitet, die sie als Antwort bekommt.
     
    Kind,
    es war nicht einfach für mich, deinen Vater zu heiraten und seine Kinder auszutragen. Vielleicht hast du dir das nie vor Augen geführt. Er und ich kamen aus verschiedenen Welten. Aber ich liebte den Mann und gab ihm das Versprechen, wie es geschrieben steht: »Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.« Es gibt nichts was ich über das stelle. Erwarte nichts anderes von mir. Ich weiß, das gleiche Versprechen musst du deinem Mann und dir selbst geben. Ich verstoße dich nicht, und du weißt, dass wir allzeit warten, dich wieder bei uns aufzunehmen, wann immer du willst und wann immer du es brauchst.
     
    Unterschrieben ist es mit »Mrs. William Daley«. Als sie die letzten Worte liest, windet Delias ganzer Leib sich schon in den Wehen. Als ihr Mann sie findet, ist die Fruchtblase bereits geplatzt. Er muss einen Kranken-wagen rufen, der Mutter und Tochter mit Blaulicht ins Hospital bringt. Als sie hört, dass sie ein Mädchen zur Welt gebracht hat, sagt sie: »Ich weiß.« Und als ihr Mann fragt: »Wie nennen wir sie?«,

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