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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Kinder nicht kappen. »Morgen rufen wir an«, sagt sie. Aber der folgende Tag kommt und vergeht ohne Telefonat. Beschämung und Schuldbewusstsein halten sie ab. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie sich noch einmal die Anschuldigungen anhören muss, die Worte, die ihr wie Messer ins Fleisch schneiden. Sie hat keine andere Lösung als dieses Überrumpeln, diesen kriminellen Sprung in die Zukunft, die Abkürzung über tausend Jahre.
    Das Baby kommt. »Das Baby kommt«, das hat ihr Joseph als Antwort auf alles, als großes Heilmittel parat. Das Kind hat dies Mysterium zu seinem eigenen gemacht, das neue Leben aus dem Nichts. Er drängt Delia, mehr zu essen, damit das Baby schneller kommt. Er will wissen, an welchem Tag das Baby kommt und wie viele Tage es noch bis zu dem Tag sind.
    Drei Wochen vergehen, und kein Wort aus Philadelphia. Dann ein Monat. Die im Feuer geschmiedete Härte, die ihren Vater dies Land ertragen lässt, lässt ihn nun auch seine Tochter ertragen. Sie kann mit seinem Schweigen nicht leben, nicht jetzt, wo ein weiteres Kind unterwegs ist. Etwas Entsetzliches geht vor, getrieben von Liebe, etwas, das sie in ihrem eigenen Inneren genauso wenig in Ordnung bringen kann wie bei ihrem Vater, eine Furcht so groß wie die Furcht sich zu verlieren, unter-zugehen.
    Schließlich hält sie es nicht mehr aus. Sie gibt auf, schreibt ihrer Mutter einen Brief. Der älteste Trick jedes Kindes – sich immer an den schwächeren Elternteil halten. Die Feigheit fängt schon mit dem Um-schlag an. Sie tippt die Anschrift mit der Maschine und gibt keine Absenderadresse an, damit ihr Daddy ihn nicht ungeöffnet fortwirft. Sie schickt ihn aus New Jersey, damit der Poststempel sie nicht verrät. Sie lügt vom ersten Satz an: Dass sie nicht wisse, gar nicht verstehen könne, was geschehen sei. Sie schreibt ihrer Mama, sie müsse mit ihr reden – sie müssten sich gemeinsam etwas einfallen lassen, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. »Egal wo. Ich komme nach Philadelphia. Es muss nicht zu Hause sein. Nur ein Ort, wo wir reden können.«
    Als Antwort kommt nur eine kurze Notiz. Kaum mehr als eine Ortsangabe – Haggern's, eine Cafeteria am Rande ihres alten Viertels, wo sie und ihre Mutter oft gewesen sind, wenn sie gemeinsam einkaufen gingen – mit Datum und Zeitpunkt. »Du hast Recht. Zu Hause wäre im Augenblick kein guter Ort.«
    Dieser Satz bringt Delia fast um. Als Nervenbündel besteigt sie den Zug nach Philly. Mittlerweile sieht man ihr die Schwangerschaft an, ihr Bauch wölbt sich von dem neuen Kind weit vor. Sie muss sich mit ihrer Familie ausgesöhnt haben, bevor es auf die Welt kommt. Es sind zwar noch Wochen, aber sie fühlt sich so schwer, die Wehen könnten jede Minute beginnen. Sie nimmt die Jungen mit – der Ausflug ist zu lang, um sie bei Mrs. Washington zu lassen. Ihre Mutter wird sich freuen, wenn sie die beiden sieht. Das macht das Treffen einfacher.
    Schon eine Viertelstunde vor dem Termin sitzt sie bei Haggern's. Zu ihrer Überraschung kommt auch ihre Mutter mit Eskorte, begleitet von den Zwillingen. Sie waren einkaufen. Das lastet schwerer auf Delias Brust, als sie begreifen kann. Ihre Mutter sieht verstohlen, verschwörerisch aus. Aber die Freude beim Anblick der Enkel glättet die Falten auf ihrem Gesicht.
    Kann es denn wirklich sein, dass sie Lucille und Lorene so lange nicht gesehen hat? Nur ein paar Monate, aber sie sehen anders aus, mit einem Mal erwachsen, mit langen Röcken und gestärkten Blusen, eine ungewohnte Kraft in ihrem Schritt. »Wie groß ihr zwei geworden seid! Dreht euch mal um. Lasst euch ansehen! Ihr habt ja richtig Figur bekommen, und das über Nacht!«
    Ihre Schwestern starren Delia an, als hätte sie ihnen Vorwürfe gemacht. Daddy hat mit ihnen darüber gesprochen. Aber sie betrachten auch verstohlen ihren dicken Bauch, mit einer Mischung aus Neid, Furcht und Hoffnung. Nettie Ellen setzt sich auf den Platz gegenüber von Delia und den Jungen. Sie beugt sich über den Tisch und streichelt ihnen die hellen Wangen. Aber noch während sie sie tätschelt, raunt sie
    schon ihrer Tochter zu: »Was in Gottes Namen hast du dir dabei gedacht? Wie konntest du so etwas zu deinem Vater sagen?«
    »Mama, es ist ganz anders.«
    »So. Und wie ist es?«
    Delia fühlt sich unendlich müde, älter als die Erde. Wie ein toter Flussarm, träge, gewunden, voller Schlick. Und sie fühlt sich ungerecht behandelt. Verraten von dem, worauf sie sich felsenfest verlassen hat. Verletzt

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