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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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auch wenn er noch am Leben wäre.«
    »Eine Menge Leute sind im Krieg umgekommen, Mama. Weiße Leute. Schwarze Leute. Gelbe Leute.« Die anderen Großeltern ihrer Jungen.
    »Dein Mann nicht. Der hat –« Aber sie behält es für sich, was sie dem Vater ihrer Enkelkinder vorwerfen möchte.
    »Mama, es ist anders, als du denkst.«
    Sie blickt sie forschend an. »Aber ja. Wann ist schon mal etwas so, wie ich denke?«
    »Es ist kein Entweder-oder. Wir wollen ihnen nichts vorenthalten. Wir wollen ihnen nicht weniger geben, sondern mehr. Wir geben ihnen Raum, die Möglichkeit zu wählen, das Recht, sich ihr Leben zu suchen, wo immer sie –«
    »Deshalb hast du einen Weißen geheiratet? Damit deine Kinder so hell sind, dass sie Sachen machen können, die du nicht tun durftest?«
    Delia weiß, warum sie einen Weißen geheiratet hat. Sie könnte exakt den Augenblick nennen, in dem die Entscheidung fiel. Aber selbst wenn sie eine Million Jahre dafür hätte, könnte sie ihrer Mutter nicht begreiflich machen, was damals auf der Mall geschehen ist, an dem Tag, an dem sie in ihre Zukunft schaute.
    Die Mutter blickt zum Fenster von Haggern's hinaus und betrachtet die Passanten. »Du hättest bei uns bleiben können. Du hättest jede Woche in der Kirche singen können, für die Menschen, die Seine Botschaft brauchen. Was willst du denn in einem vornehmen Konzertsaal, wo man sich nicht mal rühren darf, geschweige denn mitsingen? Es hätte so viele Orte gegeben, an denen du mit uns hättest singen können, die hätten dir für dein ganzes Leben gereicht. Mehr Ecken, an denen du hier unten singen kannst, als oben im Himmel.«
    Mein Lobpreis Gottes ... die Art Musik, die ich studiert habe ... Jede Antwort, die Delia hätte, fällt sofort in sich zusammen. Die Kellnerin kommt mit dem Kuchen und rettet sie. Eine Dampfwolke steigt von Nettie Ellens Blaubeerkuchen auf. Die Kellnerin setzt ihn vor ihr ab. »Ist das nicht ein Prachtstück? Frisch aus dem Ofen. Hatte sich ganz nach hinten verzogen und dachte, er ist zu fein zum Essen.«
    »Haben Sie ihn schon probiert?«, fragt Nettie Ellen.
    »Ha! Sieht der Laden hier vielleicht aus, als ob die uns ein Stück abgeben?«
    »Dann nehmen Sie sich eins und schreiben Sie's auf meine Rechnung. Na los, machen Sie schon!«
    »Tausend Dank, Ma'am, aber ich muss auf meine Figur achten. Mein Liebster will mich schlank und rank. ›Dünn wie ein Stück Seife am Ende der großen Wäsche‹.«
    »Mein Mann sagt immer, ich müsste mehr essen.«
    »Da können wir gerne tauschen. Hat er einen Sohn?«
    »Einen.« Früher waren es zwei. »Aber wenn Sie von dem Kuchen naschen wollen, müssen Sie noch ein Jährchen oder zwei warten.«
    »Sagen Sie mir Bescheid.« Die Kellnerin winkt ihnen zum Abschied und wischt zugleich alle eitlen Sorgen dieser Welt beiseite. »Ich bin hier.«
    Delia wird als Verbannte sterben. Einst lebte auch sie in dieser Welt. Ihre Jungen werden sie nie kennen lernen. Niemals die respektlose Schlagfertigkeit eines Volkes, das jede Verstellung sofort durchschaut. Die Welt, in der es mehr Ecken zum Singen gibt als im Himmel. »Die Farbigen müssen stärker werden, Mama.« Ein Satz, den sie ihr Leben lang von ihrem Daddy gehört hat.
    »Die Farbigen? Stärker? Dafür ist auf der Welt kein Platz. Sie haben die Farbigen in so viele kleine Stücke geschlagen, es gibt keine größere Nichtigkeit auf der Welt. Die Weißen müssen stärker werden. Die Weißen haben doch nie Platz für jemand anderen gehabt, immer nur für sich selbst.«
    Schweigend stochern sie in ihrem Kuchen. Wenn doch nur die Kinder zurückkämen. Wenn sie zurückkämen und ihnen beiden bewiesen, dass sich nichts geändert hat. Immer noch deine Jungen. Immer noch deine Enkel-kinder.
    »Weiß ist nur eine einzige Farbe. Alles andere ist schwarz. Und du willst sie aufziehen, sodass sie eine Wahl haben? Du hast aber keine Wahl. Und sie auch nicht. Die Wahl treffen die anderen für sie!« Nettie Ellen legt ihre Gabel ab. Sie blickt ihrer Tochter ins Gesicht. »Meine eigene Mutter. Meine eigene Mutter. Hatte einen Vater, der war weiß.«
    Die Worte treffen Delia wie ein Hieb. Nicht die Tatsache; die hatte sie sich schon lange aus dem, was geflüstert wurde, zusammengereimt. Aber dass ihre Mutter es hier so sagt. Laut und in der Öffentlichkeit. Sie schließt die Augen. Mit diesem Schmerz könnte sie überall sein. »Was ... war er für ein Mann, Mama?«
    »Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn nie gesehen. Kein einziges Mal hat

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