Der Klang der Zeit
darin, die Noten zu nennen, selbst zu musizieren. Wenn ihr Vater Recht hat, dann hat alles Übel dieser Welt Recht. Wenn er Recht hat, dann muss sie ihren Kindern sagen: Das hier ist nicht deins und dies hier nicht und dies auch nicht ... Sie kann doch ihre Jungs nicht schon vorab zu Lynchopfern machen, heute nicht und auch an keinem anderen Tag. Aber wenn ihr Vater Recht hat, dann muss sie sie darauf vorbereiten. Wenn er Recht hat, dann hat die Vergangenheit Recht, dann ist sie unausweichlich, unveränderlich.
Aber die Entschlossenheit ihres Vaters bekräftigt nur die eigene. Sie gibt nicht auf. Ja natürlich: Sie wird ihnen Wärme, ein Zuhause geben, Musik, gemeinsamen Gesang, wird sie eintauchen lassen in den Fluss, so tief, dass sie ihr ganzes Leben lang darin schwimmen können. Sie muss dafür sorgen, dass sie die Reichtümer auch bekommen, die ihnen von Geburt an zustehen. Neger. Amerikaner. Natürlich müssen sie wissen, wie unheilvoll die Geschichte dieser Wörter ist. Aber sie weigert sich, ihre Persönlichkeit nur durch das zu bestimmen, was sie nicht sind. Sie sollen nicht von vornherein verurteilt sein durch die Vorstellung, dass alles bereits entschieden ist. Sie kann ihnen nichts geben außer Freiheit. Der Freiheit, selbst zu entscheiden. Frei wie jeder andere, frei, sich zu etwas zu bekennen, jede Melodie zu singen, die ihrem inneren Ohr gefällt.
Aber vielleicht hat ihr Vater ja doch Recht. Vielleicht ist es nur ihre helle Haut, die sie überhaupt auf solche Gedanken bringt. Vielleicht ist die Vorstellung von der Wahlmöglichkeit nur eine weitere Lüge. Es gibt auch eine Art von Freiheit, die sie keinem Menschen wünschen würde. Sie geht mit ihren Jungen spazieren, Richtung Westen, zum Fluss hin, dem nächsten Stück Grün zwischen all diesem Stein; zu dritt gehen sie hinaus in die Welt, für jedermann sichtbar. Sie betrachtet ihren Dreiklang von Hauttönen mit den Augen der Passanten im Park. Wie immer zuckt sie zusammen vor der Feindseligkeit. Sie hört, wie ihre Nachbarn diese Freiheit nennen, die sie ihren Kindern geben möchten. Was bildet die sich denn ein. Hält sich wohl für weiß. Aber was ist mit der anderen Familie dieser Jungen, den Großeltern, von denen sie nichts weiß ? Aus-gelöscht, der Endlösung dieser Welt, die keine Zwischentöne kennt, zum Opfer gefallen. Sind das denn nicht genauso ihre Wurzeln?
Im Park toben die Jungs auf einer Betontreppe, als sei sie der herrlichste Spielplatz. Jede Stufe ist eine Tonhöhe, ein Laut, den sie singen, wenn sie darauf springen. Sie nehmen die Treppe als Orgel, ein ganzes Register von Pedalen, spielen Läufe darauf, hüpfen in Terzen, schreiten einfache Melodien ab. Zwei andere Kinder, weiße, sehen, mit welcher Begeisterung sie dabei sind, und machen mit, hüpfen die Treppe hinauf und hinunter, johlen ihre eigene Tonleiter dazu, bis ihre Eltern kommen und sie abführen, und ihre abgewandten Blicke entschuldigen sich bei Delia für die ewige Unverbesserlichkeit von Kindern.
Aber der Vorfall kann ihren Jojo die Freude nicht verderben. Die Kletterpartie über die Tonleiter ist nicht aufzuhalten. Sie kann es ihnen jetzt erklären oder einfach warten, bis die weiße Welt ihnen die einfältige Botschaft selbst überbringt. Eine Wahl, die ihr keine Wahl lässt. Sie weiß, was vernünftig wäre, die beste Absicherung gegen die Macht, die bei der ersten Gelegenheit die beiden lynchen wird. Der erste Angriff, die erste im Hass geflüsterte Silbe wird sie brandmarken. Sie werden Schlimmeres erleiden müssen als ihre Mutter, werden die schwerste Strafe dafür zahlen müssen, dass sie in kein Raster passen. Aber eines muss Delia glauben können: Das erste Lied, das ein Kind hört, wird in ihm weiterklingen. Und dieses Erste – nur das Erste – gehört keinem Menschen. Sie kann ihnen ein Lied beibringen, das stärker ist als Zuge-hörigkeit. Mächtiger als Identität. Ein einzigartiges Lied. Ein Ich fester als jede Rüstung. Sie kann ihnen beibringen, dass sie mit der Selbstver-ständlichkeit singen, mit der sie atmen, die Lieder all ihrer Vorfahren.
Als David nach Hause kommt, ist er wieder der Mann, den sie kennt. Die beiden Jungen: ihre, ihre gemeinsamen. Ihr ganzer Leib zittert vor Erleichterung, als habe sie sich gerade aus einer Schneewehe befreit, in die sie bis zum Hals versunken war. Wenn zwei Leute das Gleiche lieben, dann müssen sie sich doch auch gegenseitig lieben, ein klein wenig zumindest. Er nimmt sie an der Tür in die Arme, noch
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