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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hatte ein ganzes ahnungsloses Leben aufzuholen. Der Fernsehschirm lieferte mir Sturm und Drang, all die mächtigen, scharf umrissenen Enthüllungen der Kunst, in einer Fülle, neben der meine musikalischen Versuche banal und unbedeutend schienen.
    Eines Abends saßen wir vor dem Bildschirm, und plötzlich sah ich die Massachusetts Avenue vor mir, gerade auf Höhe des Drugstores, in dem ich einst ein Namenskettchen für Malalai Gilani gekauft und nicht gewusst hatte, dass mein Name darauf gehörte. Mein Leben bis zu jenem Abend, das, ging mir schlagartig auf, war das Thema des Stückes, das ich so verzweifelt schreiben wollte, des Stückes, das ich in Gedanken schon in all den Stunden in den Probenräumen von Boylston niedergeschrieben hatte. Teresa war die erwachsen gewordene Malalai, oder Malalai war so, wie ich mir Teresa als Mädchen vorstellte. Natürlich stand kein Name auf dem Kettchen; ich hatte damit gewartet, bis ich alt genug war.
    Die Kamerafahrt ging weiter die Massachusetts Avenue hinunter, und auf Teresas kleinem Fernsehschirm erschien der Tunnel meines Lebens. Dann, mit einem jener absurden Schnitte, von denen sich nur Leute, die sich nicht auskennen, täuschen lassen, machte die Kamera einen unmöglichen Sprung von den Fens in den Süden von Boston, auf die andere Seite von Roxbury. Kinder stiegen aus einem Bus. »Für die Kinder begann der heutige erste Schultag mit einer Fahrt ins...« Aber wir achteten nicht auf die Stimme, die mit Fernsehautorität erklärte, was ja offen zu sehen war. Stöcke und Steine flogen, die Gesichter des Mobs waren wutverzerrt. Teresa klammerte sich an meinen Arm, als die Kinder, die schon warteten, den anderen ihre Begrüßung entgegenjohlten: »He, Nigger! He, Nigger!«
    Es sah aus wie eine jener archaischen Szenen, die, wie man hörte, selbst in den Sümpfen des Südens ausgestorben waren, bevor ich den Kinderschuhen entwachsen war. Ich hätte nicht mehr sagen können, in welchem Jahr wir uns gerade befanden. Das Jahr, in dem wir vor dem Fernseher saßen. Teresa blickte starr auf den Schirm, traute sich nicht mich anzusehen, traute sich nicht wegzusehen. »Joseph«, sagte sie, mehr zu sich als zu mir. »Joe?« Als ob ich ihr die Erklärung geben könnte. Einem weißen Mädchen aus Atlantic City, das diese Szene mit ansah. Einem Mädchen, dem sein Vater jahrelang erklärt hatte, wer für all den Ärger im Lande verantwortlich war. Und in ihrem Blick sah ich, wie ich in ihren Augen aussah. Sie wollte, dass dieser Fernsehbericht zu Ende war, und wusste doch, dass er nie zu Ende gehen würde. Sie wollte, dass ich etwas sagte. Wollte, dass es vorbeiging, als gebe es nichts zu sagen.
    Ich zeigte auf den Bildschirm, immer noch aufgeregt, dass ich mein altes Viertel wieder gesehen hatte. »Da bin ich zur Schule gegangen. In die Boylston Academy of Music. Sechs Straßen weiter und dann links.«
    Ich wusste es schon so lange, aber ich hatte Jahre gebraucht, bis ich es zugab. Krieg. Totaler, unablässiger, ewiger Krieg. Alles, was man tat oder sagte oder liebte, stand auf der einen oder auf der anderen Seite. Gerade einmal eine Viertelminute waren die Schulbusse von Southie den Nachrichten wert. Vier Takte Andante. Dann kam Mr. Brinkley zum nächsten Thema – der Raumfahrtkrise. Offenbar wusste jetzt, wo die Menschheit ein halbes Dutzend Mal den Fuß auf den Mond gesetzt und ein paar Hundert Pfund Gestein mit zurückgebracht hatte, keiner mehr, wie es weitergehen sollte und wohin sonst im Universum man noch wollte.
    Später am Abend lag ich neben Teresa, spürte die Anspannung ihres ganzen Körpers. Sie hätte gern etwas gesagt, aber nicht einmal das war ihr bewusst. Es war ein Schweigen, das uns verschiedenen Rassen zuwies. Welche meine war, wusste ich nicht. Nur dass es nicht Terries war.
    »Gott hätte mehr Kontinente schaffen sollen«, sagte ich. »Mehr und dafür kleiner. Die ganze Welt ein Südpazifik.«
    Teresa hatte keine Ahnung, was ich sagen wollte. Sie tat in der Nacht kein Auge zu. Ich weiß es – ich lag neben ihr und lauschte. Aber als wir uns am nächsten Morgen fragten, beteuerten wir beide, dass wir gut geschlafen hätten. Von da an sah ich mir nicht mehr gemeinsam mit ihr die Nachrichten an. Wir sangen wieder oder spielten Cribbage; sie arbeitete in der Fabrik, ich plünderte die großen Melodien dieser Welt.
    Ein weiteres Jahr verschwand, und ich hörte nichts von meiner Schwester. Wo immer sie und Robert sich versteckt hielten, es musste weit fort von meinem

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