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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Abgrunds. Ich sah, wie Biafra starb und Bangladesch, Gambia, die Bahamas und Sri Lanka auf die Welt kamen. Ich sah, wie eine Hand voll Indianer ein Stück Land zum eigenen, unabhängigen Staat erklärte, der siebzig Tage bestand. Und alles, was ich bei alldem spürte, war ein benommenes Gefühl der Scham.
    Ein kleines Weilchen hatte ich Anteil an meiner Nation, an den Menschenmengen, die in Sprechchören durch die Straßen zogen, die Stimme bebend von der Überzeugung, dass ihre Stunde endlich gekommen war. Und dann war es genauso schnell mit der Nation wieder vorbei. Systematisch liquidierte die US-Regierung die Black Power. Newton und Seale, Cleaver und Carmichael, die Anführer der Bewegung wurden ins Gefängnis gesteckt oder aus dem Land vertrieben. Allmählich sickerte durch, was in Attica geschehen war, ein Inferno, wie kaum eine Nation es erlebt hatte. Gefängniswärter in San Quentin brachten George Jackson um. Er war im gleichen Jahr geboren wie Emmett Till, wie mein Bruder. Im offiziellen Bericht hieß es, er habe einen bewaffneten Aufstand angeführt. Gefängnisinsassen erklärten, dass es ein geplanter Mord gewesen sei. Die Studentenbewegung wurde zerschlagen, die Panthers vom FBI gehetzt. Irgendwo dort draußen versteckten meine Schwester und Robert sich, auf der Flucht, irgendwo zwischen den anderen doppelt Geschlagenen, zwischen all denen, die alles dafür taten, das Land von denen zurückzuholen, die es gestohlen hatten, und die dafür ihr Leben ließen.
    Wenn ich mich nicht mit Nachrichten betäuben konnte, sah ich mir Fernsehserien an, Talk- und Gameshows. Was diese Höhepunkte unserer Unterhaltungskultur an Flucht vor dem Albtraum der Gegenwart zeigten, konnte nichts, nicht einmal das, was Jonah und ich in den Jahren unserer Konzertreisen getan hatten, überbieten. Armstrong starb, dann Ellington. Das, was die Musik meines Landes hätte sein sollen, bekam einen anderen Puls. Der Ersatz, der offizielle Soundtrack für alle Jahreszeiten, der in jede Nische der Kultur hineindrängte wie eine Schlingpflanze, die ein Schrottauto überwuchert, kannte als Rhythmus nur die Betonung des zweiten und vierten Taktschlags, und als Harmonie galt, dass man von Zeit zu Zeit einen Akkord mit einer verminderten Septime zierte. Es gab keinen Ort in Hörweite mehr, an dem ich hätte leben wollen. Es war undenkbar geworden, dass ich je wieder vor anderen Leuten spielte. Unmöglich.
    »Hast du mal überlegt, ob du nicht komponieren könntest?«, fragte Teresa eines Abends beim Geschirrspülen.
    »Mir fehlt nichts«, antwortete ich. »Ich kann mir Arbeit suchen.«
    »Joseph, das meine ich doch nicht. Ich dachte nur einfach, wo du so viel Zeit hast, hättest du vielleicht ...«
    Etwas in mir, was das Aufschreiben wert war. Mit einem Schlag war mir alles klar – warum ich mich davor fürchtete, mir noch einmal eine Stelle als Barpianist zu suchen. Ich hatte Angst, dass Wilson Hart eines Tages tatsächlich auftauchen könnte, da wo ich gerade vor mich hin-klimperte, und die Mappe mit den versprochenen Kompositionen sehen wollte. Du und ich, Mix. Sie werden unsere Musik hören, bevor wir aus diesem Laden hier raus sind. Ich war dazu verflucht, jeden, den ich liebte, zu enttäuschen, jeden, der glaubte, dass doch etwas in mir steckte, was das Aufschreiben wert war.
    Terries Geduld mit mir setzte mir mehr zu als alle Schikanen. Am nächsten Tag ging ich in die Stadt, kaufte mir eine Schachtel Bleistifte und einen Packen cremefarbenes Notenpapier. Ich kaufte Bögen mit Violin- und Klaviersystemen und Bögen einfach nur mit unverbunde–nen Notenlinien – alles was auch nur halbwegs seriös aussah. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Ich legte die leeren Blätter in Stapeln oben auf das elektrische Klavier und ordnete die Bleistifte in hübschen Reihen an, jeden zur tödlichen Waffe gespitzt. Teresas mühsam im Zaum gehaltene Begeisterung beim Anblick dieser Komponistenfestung schmerzte mich mehr als der Tod meines Vaters.
    Den ganzen Tag über, während ich nervös auf Teresas Rückkehr wartete, tat ich, als komponierte ich. Fragmente von Phrasen krochen über das cremefarbene Papier, Spinnennetze in den Ecken unbewohnter Ferienhäuser. Ich hielt eine Tonfolge fest, Motiv für Motiv. Manchmal fügten sie sich beinahe zu Melodien, jeder einzelne Laut akribisch festgehalten. Manchmal blieben sie auch einfach Folgen von Dreiklängen, ohne Rhythmus, ohne Taktstriche. Ich schrieb für kein Ensemble, für kein

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