Der Klang der Zeit
das denn für ein Scheiß, Joey? Eine Lage, in der man nur verlieren kann, und der Mann hat trotzdem gewonnen.« Ich hatte keine Ahnung, warum er anrief. Mein Bruder verstand nicht das Geringste von Baseball. Mein Bruder hasste Amerika. »Wer ist denn jetzt der große Star, Muli?«
»Unter den Sängern, meinst du?«
»Baseball, du Blödmann.«
Da konnte ich ihm nicht weiterhelfen. Die Spiele der Yankees waren nicht gerade mein täglich Brot.
Jonah seufzte, und über das Transatlantikkabel kam es mit einem langen Echo. »Muli? Das ist schon eine komische Sache. Ich musste erst hierher kommen, bevor ich begriffen habe, was für ein Träumer ich bin. Diese ganze Geschichte mit der Stadt des Lichts. Alles Einbildung. Hier gibt's genauso viele Rassisten wie überall. Im Vergleich zu New York fühlt man sich hier wie in Alabama. Ich muss meine Geburtsurkunde zeigen, bevor sie mir einen Käse verkaufen. Im dreizehnten Arrondisse-ment hat mich einer verprügelt. Richtig zusammengeschlagen. Keine Sorge, Bruder, ist schon ein halbes Jahr her. Ging mit Fäusten auf mich los. Einen Zahn habe ich eingebüßt. Ich sitze da, gebe ihm rechts und links Ohrfeigen wie ein Kastrat und denke, Aber hier gibt's doch überhaupt keine Rassenkrawalle! Ich denke an Josephine Baker, Richard Wright, Jimmy Baldwin. Ich rufe diesem Kerl zu: »He, ihr liebt doch mein Volk.« Stellt sich heraus, dass er mich für einen Algerier gehalten hat – der Akzent, die braune Farbe. Sich für den Befreiungskrieg rächen wollte. Meine Güte, Muli. Bis wir endlich im Grab liegen, haben wir für jede Sünde gebüßt, außer für unsere eigene.«
Er spielte den Clown für mich. Aber wer sonst würde ihm so einen Auftritt schon abnehmen ? Paris war nicht schlimmer und nicht besser als jede andere Weltstadt. Was ihn quälte, war, dass er damit seine Zuflucht verloren hatte. Er hatte gehofft, dass er ein völlig neuer Mensch werden könnte, ein Zuhause finden, das ihm ein Visum auf Lebenszeit gab. Aber das würde er niemals bekommen, egal auf welchem Kontinent.
»Ich weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalte, Joey.«
»Aber wo willst du dann hin?«
»Ich denke an Dänemark. Ich habe viele Verehrer in Skandinavien.«
»Jonah, du hast auch viele Verehrer in Frankreich. Nie im Leben habe ich so begeisterte Kritiken gesehen.«
»Ich schicke nur die guten.«
»Findest du das wirklich vernünftig, aus Paris wegzugehen? Für deine Karriere, meine ich. Wie erreiche ich dich dann?«
»Das ist doch einfach, Mann. Ich melde mich.«
»Brauchst du Geld? Es gibt ein Bankkonto ... dein Anteil an dem Haus ...«
»Ich bin flüssig. Lass es auf der Bank. Kauf Aktien dafür oder so was.«
»Es ist auf deinen Namen.«
»Toll. Solange ich meinen Namen nicht ändere, habe ich Geld.« Noch rasch ein Accelerando. »Du fehlst mir, Mann« – und dann legte er auf, bevor auch er mir fehlen konnte.
Je mehr ich komponierte, desto dreister wurde ich. Meine Noten bewegten sich nur noch in eine einzige Richtung, rückwärts. Nicht einmal ich konnte unbegrenzt von Teresas Stipendium schnorren. Da ich für keine anständige Arbeit geeignet war, bot ich in einer Anzeige Klavierunterricht an. Ich formulierte ewig an diesem Inserat: »In Juilliard ausgebildeter« – ich behauptete nicht, dass ich meinen Abschluss dort gemacht hätte – »Konzertpianist mit pädagogischem Geschick ...« Es beschäftigte mich, dass das Wort Konzertpianist immer noch seine Wirkung tat, selbst bei Leuten, die längst nicht mehr in Konzerte gingen.
Manchmal erschraken die Eltern, wenn sie den Mann hinter der Anzeige sahen. Sie ließen mich zur Probelektion kommen. Dann kam eine Ausrede, etwa, dass das Kind doch lieber Kornett blasen wollte. Mir machte das nichts aus. Ich wäre ja auch nicht zu mir zur Klavierstunde gekommen. Ich konnte mir ohnehin nicht erklären, warum heutzutage noch jemand Klavierspielen lernen wollte. Noch ein paar Jahre, dann traten Moog-Synthesizer an unsere Stelle. Für die besten Musiker hatte die elektronische Zukunft ja bereits begonnen: Morituri te salutant.
Aber irgendwie stellten sich doch Klavierschüler ein. Ein paar davon spielten offenbar sogar gern. Ich hatte achtjährige Kinder aus Unterschichtfamilien, die beim Spielen vor sich hin summten. Ich hatte ältliche Wiedereinsteiger, die einfach noch einmal vor dem Ende ihrer Tage den Minutenwalzer in
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