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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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bestimmtes Instrument, nicht einmal für Klavier und Stimme. Mein imaginäres Publikum war überall zu Hause, und ich konnte nicht einmal sagen, ob ich Popsongs schrieb oder trockene akademische Abstrak-tionen. Ich radierte nie etwas aus. Wenn ich mit einer Phrase nicht mehr weiterkam, begann ich einfach in der nächsten Zeile neu. Wenn ein Blatt voll war, drehte ich es um und füllte die Rückseite. Dann nahm ich das nächste.
    Es waren die längsten Tage meines Lebens, weit länger als meine Tage im Probenraum in Juilliard, länger sogar als die Tage, die ich am Sterbebett meines Vaters verbracht hatte. Einmal rechnete ich es aus: Ich schrieb im Schnitt 140 Noten die Stunde – zweidrittel Dreiklänge alle drei Minuten. Manchmal verbrachte ich einen halben Nachmittag damit, einen Notenkopf auszumalen.
    Was ich zu Papier brachte, war entsetzlich hölzern. Eine Marionette, die einfach nicht aufstehen und singen wollte. Aber dann und wann, mit langen Zeitspannen dazwischen, immer, wenn ich an nichts dachte und ganz vergaß, worauf ich überhaupt hinauswollte, brachte ich unversehens ein kleines Stückchen Musik zustande. Ich spürte einen unwiderstehlichen Sog über die Phrase hinaus, in den nächsten Bogen einer Melodie, die schon da war, bevor mein Bleistift sie fixieren konnte. Mein ganzer Körper ging mit, buchstäblich mitgerissen, von der bleiernen Bürde von Jahren befreit. Die Ideen sprudelten schneller, als ich auf-schreiben konnte, und ich musste alles in einer panischen Kurzschrift festhalten, damit es nicht verloren ging. Solange ein solcher Schaffens-rausch anhielt, war ich in allen zwölf Tönen zu Hause, konnte damit in Noten fassen, was das Leben nur angedeutet hatte.
    Aber dann machte ich jedes Mal den Fehler und spielte die Themen, die wie von selbst aus mir emporgekommen waren. Und schon nach ein paar Tönen hörte ich es. Alles, was ich aufschrieb, kam von anderswo her. Mit einer kleinen Veränderung im Rhythmus, einer leichten Verschiebung in der Tonhöhe waren meine Melodien einfach gestohlen, ein Abklatsch all der Musik, deren Interpret ich einmal gewesen war. Ich verkleidete sie nur ein wenig und verbarg sie in modischer Dissonanz. Ein Schütz-Choral, den wir zu Hause gesungen hatten, Lieder von Mamas Totenfeier, der Anfang von Schumanns Dichterliebe, ein Stück, das Jonah besonders mochte, weil es zwischen Dur und Moll oszillierte und sich nie in die eine oder in die andere Richtung auflöste: Nicht eine einzige eigene Idee steckte in mir. Ich konnte nichts weiter – und selbst das nur unbewusst –, als wieder zu beleben, was sich meines eigenen Lebens bemächtigt hatte.
    Wenn Teresa dann schließlich von der Arbeit nach Hause kam, versuchte sie vergebens, ihre Spannung beim Anblick der immer höher werdenden Notenstapel zu verbergen. Im Notenlesen hatte sie noch keine großen Fortschritte gemacht, und so merkte sie nicht, wie wenig es zu lesen gab. Manchmal stellte sie sich noch in ihrem klebrigen Arbeitskittel ans Klavier und sagte: »Spiel was für mich, Joseph.« Ich spielte ein paar Takte, sicher, dass sie niemals heraushören würde, von wo sie zusammengestohlen waren. Mein Gekritzel machte Teresa glücklich. Die 120 Dollar pro Woche, die sie verdiente, reichten kaum für ihren eigenen Lebensunterhalt. Aber sie fütterte mich bereitwillig mit durch und hätte es mit Freuden bis ans Ende aller Zeit getan, überzeugt wie sie war, dass ich neue Musik für die Welt schuf.
    Am Abend beschworen wir dann wieder das Traumbild unserer zweistimmigen Harmonie und retteten uns damit bis in den frühen Morgen. Manchmal fiel uns nichts Besseres ein, als gemeinsam fernzusehen. Dramen über weiße Menschen, die unter der Last des Landlebens zu leiden hatten, fernab der Zivilisation, in längst vergangener Zeit. Komödien über bigotte Unterschichttypen und ihre liebenswerten Boshaftigkeiten. Hochwichtige Sportereignisse, an deren Ausgang ich mich nicht mehr erinnere. Was es eben im Amerika der siebziger Jahre so zu sehen gab.
    Teresa wollte keine Nachrichtensendungen sehen, aber ich drängte sie. Schließlich gab sie nach und ließ zu, dass wir uns beim Abendessen David Brinkley ansahen. Mein Gefühl, dass die Welt zugrunde ging, verschwand allmählich, und zurück blieb der Eindruck, dass sie längst zugrunde gegangen war. Ich verfiel der unwiderstehlichsten Sucht überhaupt: dem Bedürfnis, die großen Ereignisse aus der Ferne zu verfolgen. Ich tat es mit dem Fanatismus des spät Konvertierten; ich

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