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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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an, als spielte ich in dicken Handschuhen. Es hatte weniger Ähnlichkeit mit einem Klavier als der Glimmer Room Ähnlichkeit mit den Konzertsälen gehabt hatte, in denen Jonah und ich früher aufgetreten waren. Als ich ihr Geschenk ansah, saß Teresa mit angehaltenem Atem dabei, die Hand vor dem Mund, ihrer Familie entfremdet, alle Ersparnisse verprasst. Wir würden noch alle an wahnwitziger Aufopferung sterben. An falsch investierter Liebe.
    »Das ist ja phantastisch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das hättest du doch nicht tun sollen. Das kann ich nicht annehmen. Wir schicken es zurück.« Sie sah mich an, als hätte ich gerade ihren Hund überfahren. »Natürlich behalten wir es. Komm. Lass uns singen.« Mit bleiernen Fingern spielte ich ein paar Arpeggien, dann legte ich los mit »Honeysuckle Rose«. Alles was sie sich erhofft hatte. Den Gefallen konnte ich ihr doch wenigstens tun.
    Das kleine, schwarze, verkrüppelte Klavier war das Kreuz, das ich zu tragen hatte. Bald spielte ich lieber darauf als auf einem Konzertflügel, so wie jemand mit einem verrenkten Rücken vielleicht lieber auf dem Fußboden schläft als auf einer Matratze. Ich spielte es gern in ausge-schaltetem Zustand. Dann gab es dumpfe, diffuse Töne von sich, als spielte ich unter einer Glocke. Ich wollte alles so klein wie möglich machen, ein Auftritt in einer Schuhschachtel. Je kleiner der Maßstab, desto besser, wenn ich denn überhaupt spielen musste.
    Teresa wollte keine Gegenleistung für ihr Geschenk, sie wollte mich einfach nur froh machen. Das setzte mir am meisten zu. Sie glaubte, ich müsse spielen, ich brauchte es als Rettungsanker. Diese Frau, die im Leben schon so viel gearbeitet hatte, hätte mich vor die Tür setzen sollen. Aber solange sie mir helfen konnte, meine Musik am Leben zu halten, hätte es ihr nichts ausgemacht, wenn ich nie wieder etwas verdient hätte. Wir hatten unser eigenes Klavier. Eine Zeit lang sangen wir fast jeden Abend, jetzt wo keine Auftritte mich mehr daran hinderten. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit spielte ich nur um des Spielens willen. Auf unseren Konzertreisen waren Jonah und ich niemals allein gewesen. Wir waren immer jemandem verantwortlich gewesen, zuerst den Noten auf dem Blatt, dann den Leuten unten im Publikum. Selbst wenn wir probten, im Stechschritt unsere Runden drehten, gab es immer schon andere Ohren, die zuhörten. Teresa und ich waren ganz allein. Statt im Gleichschritt zu marschieren, konnten wir uns anrempeln, stolpern, uns im Wege stehen und schließlich doch über die Ziellinie torkeln, wobei jeder dem anderen den Vortritt lassen wollte. Keine Notenblätter stützten oder behinderten uns, kein Zuhörer, kein Publikum machte uns Vorschriften. Wir brauchten auf niemanden zu hören, nur auf einander.
    Sie war bedrückt und verzagt, wenn wir nicht richtig in Schwung kamen. Sie hatte eine stockende Art zu singen, abgeschaut von Sarah Vaughan, die es von Ella Fitzgerald hatte und die wiederum von Louis Armstrong, und der hatte es von den Liedern, die in seinem Waisenhaus gesungen wurden. Ich lauschte angespannt und dachte jedes Mal, Das schafft sie nie. Sie wurde wütend, wenn ich diesen Schluckauf mit dem Klavier nachzumachen versuchte. Sie war ganz Rhythmus und Melodie, die synkopierte Flucht vor dem Rest ihres Lebens. Ich war Harmonie und Klang, stopfte jede Pause mit Akkorden, mit Sexten, verminderten Nonen, mit mehr Noten auf einmal, als die Textur verkraften konnte. Aber irgendwie machten wir gemeinsam Musik. Unsere Lieder kehrten der Welt draußen den Rücken, kümmerten sich um nichts, waren an manchen Abenden schon beinahe zu schön und beglückten niemanden außer uns beiden.
    Wenn Teresa in der Fabrik war und ihre Bonbons verpackte, las ich Zeitung oder sah fern. Ich übte nicht mehr, nur am Spätnachmittag
    prägte ich mir einen Song oder zwei ein, bevor Teresa nach Hause kam. Ich nahm mir die Zeit und lernte, was in der Welt seit dem Tod von Richard Strauss so alles geschehen war. All die Tage vor dem Fernseher vermischten sich in meinem Gedächtnis, bis ich nicht mehr sagen konnte, wie viele Monate vergangen waren. Ich sah mir den My–Lai–Prozess an und erlebte mit, wie jede Chance auf einen ehrenvollen Frieden verspielt wurde. Ich sah das Attentat auf Wallace, ich sah, wie Nixon wieder gewählt wurde und seine Chinareise machte. Ich sah den immer währenden Krieg zwischen Arabern und Israelis neu aufflam-men, und wieder einmal geriet die Welt an den Rand des

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