Der Klang der Zeit
weniger als hundert Sekunden spielen wollten. Ich unterrichtete Naturtalente, die mit einer Stunde Üben pro Woche aus-kamen, und ich unterrichtete wackere Biedermänner, die in die Grube fahren würden, ohne dass sie je die Melodien gespielt hatten, die sie in ihren Träumen nicht losließen und die immer gerade außerhalb der Reichweite ihrer Finger lockten. Kein einziger meiner Schüler würde je auf einem Podium spielen, höchstens beim Talentwettbewerb ihrer Schule. Sie oder ihre Eltern hingen immer noch der längst aus der Mode gekommenen Überzeugung an, dass ein wenig Klavierspiel einem Menschen das entscheidende bisschen mehr Freiheit gab. Ich versuchte für jede und jeden den richtigen Weg zu finden, die richtige Nische in den Jahrhunderten des Repertoires. Ein Knabe aus der Mittelschicht, Stammbaum bis zurück zur Mayflower, war Feuer und Flamme für die alte John-Thompson-Methode seines Vaters und versuchte selbst das hinterwäldlerischste Volkslied prestissimo zu spielen. Die Tochter zweier Flüchtlinge aus Ungarn, die nach den Ereignissen von '56 nach Amerika gekommen waren, kicherte sich durch Bartóks Mikrokosmos und verzog jedes Mal die Miene bei den sanften Dissonanzen der Gegen-bewegung, hörte darin ein fernes Echo von etwas längst Vergessenem, etwas, das man nicht einmal mehr das kollektive Gedächtnis ihrer Nation nennen konnte. Schwarze Schüler hatte ich nicht. Die Schwarzen von Atlantic City gingen anderswo zur Schule.
Ich gab mir Mühe, die sterbenden Noten wieder zum Leben zu erwecken. Ich ließ meine Schüler in den zähesten Tempi beginnen und verdoppelte sie alle vier Takte. Ich setzte mich neben sie auf die Klavierbank und spielte die linke Hand, während sie die rechte spielten. Dann wechselten wir und begannen wieder von vorn. Ich erklärte ihnen, dass dies eine Übung war, die ihnen helfen sollte, die beiden Hirnhälften zu trennen, wie man es für beidhändiges Spiel brauchte. Ich erzählte ihnen, dass jedes Musikstück ein kleiner Aufstand war, der sich entweder zur Demokratie entwickelte oder zum Scheitern verurteilt war.
Eine Schülerin war ein High School-Mädchen namens Cindy Hang. Ihren echten Vornamen, ihren Geburtsnamen, wollte sie mir nicht verraten, obwohl ich mehrfach fragte. Sie sei Chinesin, sagte sie – die einfachste Antwort. Ihr Vater, ein Bankangestellter aus Trenton, der sie und einen jüngeren kambodschanischen Jungen adoptiert hatte, nannte sie Hmong. Ihr Englisch war weich, es klang wie Klavierspiel mit Pedal, aber in der Grammatik war sie ihren einheimischen Klassenkameraden um Längen voraus. Sie sprach so wenig wie möglich, und wenn ich es zuließ, überhaupt nicht. Sie hatte erst spät mit dem Klavierspiel begonnen, vor vier Jahren, mit dreizehn. Aber sie spielte wie ein ge-stürzter Engel.
Ich fand ihre Technik verblüffend. Ich konnte mich gar nicht satt hören und gab ihr lächerliche Stücke zu spielen – Busoni, Rubinstein –, Shownummern und Schmalz, die ich unerträglich fand. Und ich wusste, in ein paar Wochen würde ich sie beschwingter hören, als ich je für möglich gehalten hätte. Als würde man die Bibel in die Sprache der Wale übersetzen, unverständlich, fremd, aber doch immer noch als das Zu erkennen, was es war. Ihre Finger schufen die harmonische Struktur von Grund auf neu. Sie horchte mit den Fingern, wie ein Safeknacker, der die Zahnräder selbst noch durch die Handschuhe spürt. Sie berührte die Tasten so zärtlich, als wolle sie schon vorab um Verzeihung dafür bitten, dass sie sie drückte. Aber schon die leiseste Berührung kam mit der Macht des Vertriebenen daher.
Nach jeder Unterrichtsstunde mit Cindy Hang kam ich mir wie ein Verbrecher vor. »Es gibt nichts, was ich ihr beibringen kann«, sagte ich zu Teresa. Selbst diese kleine Bemerkung war schon ein Fehler.
»Oh, ich könnte mir vorstellen, dass es da eine ganze Menge gibt.«
Sie sagte es mit einem Ton, den ich noch nie bei ihr gehört hatte. Aber ich biss nicht an. »Alles, was ich ihr beibringe, zerstört nur ihre Kunst. Wie sie die Tasten streichelt, das ist unnachahmlich.«
»Streichelt?« Als hätte ich sie geschlagen.
»Terrie, Liebling. Das Mädchen ist erst siebzehn.«
»Eben.« Ihre Stimme klammerte sich an dieses Nichts.
Von da an wurde es schlimmer. Nach jeder Stunde mit Cindy spürte ich, wie Teresa tat, als sei nichts gewesen. »Wie war es?«, fragte sie zum Beispiel. Und ich antwortete genauso beiläufig: »Nicht schlecht.« Ich hatte eine lange
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