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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Amerika sein. Wenn sie jetzt, wo die sechziger Jahre schon vergessen waren, unter neuen Namen auferstanden waren, dann hatten sie nicht riskiert mich zu verständigen. Irgendwann in den verlorenen Monaten vor dem Fernseher war ich dreißig geworden. Jonahs dreißigsten Geburtstag im Jahr zuvor hatte ich mit einer Kassette gefeiert, auf der Teresa und ich einen Song von Wesley Wilson zum Besten gaben, »Old Age is Creeping Up on You«, wozu Teresa eine schräge Pigmeat-Pete-Imitation beisteuerte und ich ein wenig Catjuice Charlie. Ob Jonah das Band je bekam, habe ich nicht erfahren. Vielleicht fand er es geschmacklos.
    Er schrieb. Nicht oft und nie ausführlich, aber er hielt mich auf dem Laufenden, mit kleinen Schnipseln, Zeitungsausschnitten, Besprechun-gen, Briefen, Amateuraufnahmen. Selbst Berichte über neidische alte Schulfreunde, die im Klassikghetto geblieben waren, schickte er mir. Mein Bruder machte Karriere, erklomm Sprosse um Sprosse der Leiter in den Parnass und wusste, dass er irgendwann oben ankommen würde. Er war noch immer einer der Jüngeren unter den jungen Stimmen, ein Hauch frischer Wind aus einem unerwarteten Winkel der Welt, ein aufsteigender Stern in gleich fünf verschiedenen Ländern.
    Er wohnte jetzt in Paris, wo kein Mensch ihm das Recht streitig machte, alles zu singen, was in seinen beträchtlichen Stimmumfang fiel. Wenn jemand ihm die Zugehörigkeit zu dieser Kultur absprechen wollte, dann deswegen, weil er Amerikaner war. Kein Mensch in Europa warf ihm vor, dass seine Stimme zu klar, zu hell sei. Dort hörte man nur seine geschmeidigen Höhenflüge. Die Tür zu einer großen Zukunft stand ihm offen. Sein Gesang galt als »mühelos«, das größte Kompliment, das man dort vergab. Der Tenor für die siebziger Jahre. Und auch das war als Kompliment gemeint.
    Jetzt, wo keiner mehr seine Stimme zu leicht fand, trat Jonah oft in Orchesterwerken auf. Kritiker lobten, wie er selbst den komplexesten, vielschichtigsten Werken des zwanzigsten Jahrhunderts die Schwere nahm und sie transparent machen konnte. Er trat mit Dirigenten auf, mit deren Aufnahmen wir groß geworden waren. Er sang Hindemiths Das Unaufhörliche mit Haitink und dem Concertgebouw Orchester. Er sang das Tenorsolo in Szymanowskis Dritter Sinfonie – dem Lied der Nacht – mit den Warschauer Sinfonikern als Vertretung für den erkrankten Józef Meissner, der allerdings schon nach zwei Auftritten wieder auf dem Posten war. Die französischen Kritiker, stets allem Neuen aufge-schlos-sen, nannten das damals noch wenig bekannte Werk »sinnlich« und den Vortrag des Sängers, der immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, »schwebend, ätherisch, von beinahe unerträglichem Wohlklang«.
    Das Werk, mit dem Jonah sich neuerdings am meisten identifizierte, war jedoch Michael Tippetts düsteres Kriegsoratorium A Child of Our Time, die Antwort der Gegenwart auf Bachs Matthäuspassion. Nur, dass Tippetts Protagonist nicht der Sohn Gottes war, sondern ein Junge, den alles Göttliche im Stich gelassen hatte. Ein jugendlicher Jude, der sich in Paris versteckt; der aus Zorn über das, was die Nazis seiner Mutter antaten, einen deutschen Offizier erschießt und damit das große Pogrom in Gang bringt. An die Stelle von Bachs protestantischen Chorälen wollte Tippett etwas Allgemeingültigeres setzen, etwas, das in der Lage sein sollte, alle musikalischen Grenzen zu überschreiten. Was er brauchte, fand er durch Zufall in einer Radiosendung mitten im Krieg, einem Konzert des Hall-Johnson-Chors mit Negerspirituals.
    Es war ein hybrides Werk, und Jonah war wie geschaffen dafür. Wie die Europäer ihn zu dieser Musik in Verbindung setzten – was sie hörten und sahen –, weiß ich nicht. Aber im Laufe der nächsten Jahre sang mein Bruder dieses bedrückende Oratorium unter vier Dirigenten und mit drei Orchestern – zwei britischen, einem belgischen. 1975 nahm er es mit den Birminghamer Sinfonikern auf. Es machte ihn berühmt, überall außer in seinem Heimatland. In den Bündeln von Zeitungsartikeln, die er mir schickte, oft nicht einmal mit einem Gruß dazu, war von seinem Ton die Rede, der noch immer jung war, eine Engelsstimme in dieser säkularen Welt.
    1972 hatte er mich angerufen, von Paris, in Tränen aufgelöst, weil Jackie Robinson gestorben war. »Tot, Muli. Rickey warf den armen Bur-schen in die Arena, und dann musste er für alle Zeiten den Ball schlagen. ›Ich brauche einen Mann, der tapfer genug ist, sich nicht zu wehren.‹ Was ist

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