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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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in den Sinn. Unter ihren Händen waren die europäischen Weisen zu etwas geworden, das sie selbst noch nie in sich gesehen hatten. Einen solchen Klang habe ich nie wieder gehört. Als Einzige unter meinen Schülern hätte dieses Mädchen das Zeug zum Pianisten gehabt. Aber ihr Spiel hätte auf dem Weg zur Bühne sterben müssen.
    Cindys Verbannung brachte Terrie und mich für eine Weile wieder näher zusammen. Teresa hatte so viel aufgegeben für das Leben mit mir, mehr als ich je wieder gutmachen konnte. Diese Gewissheit lastete auf mir wie eine Gefängnisstrafe. Von Tag zu Tag wuchs die Überzeugung, dass ich ein Leben mit mir nicht zulassen durfte. Sie wollte sich opfern für jemanden, der sein Leben ganz in den Dienst dessen stellte, was ihr das Wichtigste auf der Welt war. Sie wollte einen Musiker heiraten. So einfach war das. Sie wollte, dass ich ihr Mann wurde. Sie glaubte, dass eine Unterschrift, ein offizielles Papier unsere ewigen Ängste vertreiben, die Mauern einreißen könnte. Das ist mein Mann, könnte sie dann gehässigen Kassiererinnen sagen, den Männern, die uns drohend auf der Straße nachgingen, den Polizisten, die von ihren Streifenwagen aus jeden unserer Schritte im Auge behielten. Das ist mein Mann, würde sie sagen, und dann wüssten sie nicht, was sie darauf antworten sollten.
    Manchmal am Abend, mutig geworden von der Nähe in der Dunkelheit, brachte sie das Thema flüsternd auf. Sie malte mir ein Phantasiebild aus, ein Haus, einen souveränen Staat nur für uns, mit eigener Flagge und eigener Hymne, vielleicht sogar mit wachsender Bevölkerung. Ich widersprach nie, und im Dunkeln hielt sie die Bereitschaft, mit der ich lauschte, für Zustimmung.
    Jetzt, wo Entscheidungen für die Zukunft zu fällen waren, sanken meine musikalischen Leistungen auf beinahe null. Und die Welt jenseits der Klaviatur war noch schlimmer. Schon eine halbe Stunde in diesem Vakuum erschöpfte mich vollkommen. Ein kleiner Einkauf wurde zur Besteigung des Mount Everest. Vielleicht sollten wir heiraten, dachte ich. Heiraten und irgendwohin ziehen, wo man leben kann. Aber ich wusste nicht wie. Wenn ich es einfach Teresa überließ? Wenn sie die ganze Abwik-klung übernahm und mir sagte, wenn es vorbei war ...
    Ich war wie gelähmt. Ich überlegte, wie groß die Aussichten waren, dass ich starb, bevor ich das unausgesprochene Versprechen einzulösen hatte. Ich hatte die dreißig überschritten, das Alter, jenseits dessen man niemandem mehr trauen konnte. Teresa war ebenfalls nicht mehr weit von dieser Hürde entfernt, die Grenze, auf deren anderer Seite eine unverheiratete Frau wohl immer unverheiratet bleiben würde. Ich hätte es ganz natürlich finden sollen. Es war schließlich das, womit ich groß geworden war: Ein Paar, zwei Farben. Aber ein Vierteljahrhundert hatte mir jede natürliche Regung ausgetrieben. Alle Lektionen meiner Familie liefen auf das eine hinaus: Keiner heiratet jenseits seiner Rasse und bleibt am Leben.
    Für Teresa war ich halb weiß. Wir sangen gemeinsam und verstanden uns bestens. Nach ihren Begriffen wusste sie genau, wer ich war. Sie sah, wie ich mich abmühte, versuchte, weiße Musik zu schreiben. Alles, was ich vor ihr verbarg, bestärkte sie nur in diesem Glauben. Einmal wollte sie etwas über die Familie meines Vaters wissen. Sie wollte dazugehören. »Von wo kommen sie?«
    »Deutschland.«
    »Das weiß ich, Dummkopf. Von wo in Deutschland?«
    Gar nicht so leicht zu beantworten. »Bis zum Krieg haben sie in Essen gewohnt. Mein ... Vater stammte aus Straßburg.«
    »Stammte?«
    Ich lachte. »Na ja, ursprünglich kamen sie natürlich alle aus Kanaan.«
    »Wo ist das?« Ich konnte ihr nur übers Haar streichen. »Und wo sind sie jetzt?« Kein Zögern. So ahnungslos war sie.
    »Fort.«
    Darüber musste sie nachdenken. Ihre eigene Familie hatte sie verstoßen, aber trotzdem wusste sie, wo alle waren. Nach wie vor schickte sie jedem Cousin und jeder Cousine Geburtstagskarten, auch wenn kaum noch eine zurückkam. »Fort?« Dann begriff sie, und danach brauchte sie keine Erklärung mehr.
    Sie fragte nach Mamas Familie. Ich erzählte ihr, was ich wusste. Mein Großvater, der Arzt, Frau und Kinder in Philadelphia. »Wann lerne ich sie kennen, Joe?« Niemand nannte mich Joe. »Ich würde gern mit dir hinfahren. Wann du willst.« Ich konnte es ihr nicht erklären. Keine zwei Menschen konnten einander fremder sein.
    Nur durch Zufall begriff ich, was ich ihr wirklich antat. Nach wie vor suchte ich

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