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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Liste von Stücken im Kopf, die ich dem Mädchen nicht zu spielen geben durfte – Liebesträume, die Mondscheinsonate, »Prelude to a Kiss«, Fantasien aller Art. Und während all dessen spielte Cindy Hang eifriger denn je, spielte von Mal zu Mal besser und wunderte sich gewiss, dass ihr Lehrer umso abweisender wurde, je größere Fortschritte sie machte.
    Ich hatte keinerlei Verlangen nach dem Kind verspürt, bis Teresa es mir unterstellte. Dann wurde Cindy in kleinsten, stets zu leugnenden Schritten allmählich zur Obsession. Nacht für Nacht begegnete sie mir in meinen Träumen, das Schicksal führte uns zusammen bei einer Massendeportation, Bilder aus dem Krieg. Wir wussten immer genau, was der andere brauchte, ohne dass wir ein Wort sagen mussten. In Gedanken kleidete ich sie in Marineblau, ein dreiviertellanges Kleid mit Trompetenärmeln, mittlerweile seit vier Jahrzehnten aus der Mode. Alles stimmte, bis auf das Haar, das in meinen Träumen lockiger war. Im Traum legte ich mein Ohr an die braune Vertiefung unterhalb des Schlüsselbeins, die ich auch im wachen Zustand sah, wenn sie aufrecht auf der Bank saß und mir vorspielte. Als mein Ohr ihre Haut berührte, klang das Pulsieren des Blutes darunter wie Gesang.
    Cindy Hangs Haut war perfekt – ein unverfängliches Braun, wie bei der Hälfte der Menschheit. Ich liebte das Mädchen, weil es so verletzlich
    war, so ganz und gar verwundert darüber, wo es gelandet war, liebte in jeder tastenden Bewegung ihrer Finger die zaghaften Versuche sich zurechtzufinden. Ich liebte ihre Musik – sie klang als käme sie von einem anderen Planeten, als könne sie auf dem hiesigen niemals zu Hause sein. Wochenlang redete ich mir ein, dass alles in Ordnung sei. Aber ich wollte etwas von Cindy Hang, etwas, von dem ich gar nicht wusste, dass es da war, bevor Teresa in ihrer Eifersucht es mir zeigte.
    Wir spielten gemeinsam, Mozarts D-Dur-Sonate für Klavier vierhändig, Köchelverzeichnis 381. Ich gab sie ihr zu spielen, nur damit ich neben ihr auf dem Klavierhocker sitzen konnte. Es gibt nur vier wirklich profunde Takte in dem Stück, der Rest ist Geklimper. Aber ich freute mich darauf wie noch nie auf etwas in meinem Leben. Es brachte mich da capo dorthin zurück, wo ich begonnen hatte. Wir spielten gemeinsam den mittleren Satz, ein wenig langsamer als angegeben. Sie übernahm den oberen Part, ich lieferte das Fundament. Meine Noten waren gemessen, getragen. Ihre waren leicht und sprunghaft, wie das Hüpfen eines Vogels. Mir war, als ginge ich über einen bunten Rummelplatz, ein glückliches Kind auf meinen Schultern.
    Einmal war unser Spiel vollkommen. Unter unseren Fingern fand das harmlose kleine Stück seine Bestimmung. Wir kamen ans Ende, und meine Schülerin und ich spürten beide, was uns da gelungen war. Cindy saß schweigend neben mir, gesenkten Hauptes, den Blick auf die Tasten geheftet, wartete, dass ich sie berührte. Als ich es nicht tat, blickte sie auf, mit einem verlegenen Lächeln, wollte mir gefallen. »Können wir es noch einmal versuchen? Ganz von Anfang?«
    Ich rief ihren Vater an. Cindy sei ausgesprochen talentiert, sagte ich, »eine echte Musikerin«, aber sie sei über das hinaus, was ich ihr beibringen könne. Ich sei gern behilflich, jemanden zu finden, der sie weiterbringe. Im Grunde meines Herzens war ich sicher, dass jeder andere Lehrer alles in ihr, was schön und unerklärlich war, ersticken würde. Die unwillkürliche Virtuosität dieser Fremden würde keine einzige echte Klavierstunde überleben. Aber alles, was ein anderer Lehrer mit ihr tat, war besser als das, was ich mit ihr tun würde, wenn sie auch nur noch ein einziges Mal bei mir Unterricht nahm.
    Cindys Vater war so perplex, dass er keine Einwände machte. »Möch-ten Sie mit ihr sprechen? Es ihr selbst erklären?«
    Ich muss etwas Lächerliches gesagt haben, denn ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich verabschiedete mich, ohne dass ich noch einmal mit ihr sprach. Monatelang sagte ich nichts zu Teresa. Wenn ich es ihr gesagt hätte, hätte es nur ihre Befürchtungen bestätigt. Als ich es schließlich beichtete, war sie am Boden zerstört, so elend wie nur die Wahrheit machen kann. Zwei Wochen lang schlich sie durchs Haus, versuchte es wieder einzurenken. »Vielleicht solltest du das Unterrichten aufgeben, Joseph. Du hast seither überhaupt nicht mehr an deiner eigenen Musik gearbeitet.«
    Ich träumte nicht mehr von Cindy Hang, nur ihr seltsames, surreales Klavierspiel kam mir noch

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