Der Klang der Zeit
Straßburg, wo ich den munteren Tenor zur millionsten Aufführung der allmächtigen NEUNTEN in dieser Saison gab, bei einer durch und durch bescheuerten Veranstaltung in der neuen »Hauptstadt Europas«, mit Solisten, einem Dirigenten und Musikern aus zwei Dutzend Ländern. Bin mir nicht ganz sicher, wofür ich dabei stehen sollte. Wir holten Schwung für das donnernde Finale, und da endlich, ganz plötzlich, ging mir auf, was für eine groteske Geschichte das ist. Mein ganzes Leben lang habe ich den Lakaien für Kulturimperialisten gespielt. Alle Menschen werden Brüder! Heilige Einfalt, auf was für einem Planeten lebt der Mann? Nicht auf unserem; nicht auf dem Planeten der Affen.
Hab's schon noch mit Anstand zu Ende gesungen. Aber seither habe ich so eine Art Allergie. Eine Allergie gegen alles, was nach 1750 entstanden ist. Habe drei Auftritte abgesagt, alles dicke fette Pralines aus dem neunzehnten Jahrhundert. Einen Großangriff auf die Schöpfung unten in Lyon habe ich noch durchgestanden, aber es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre davongelaufen ... Wieder zurück in Paris, habe ich zufällig einen Chor aus Flandern gehört, ein Dutzend Sänger, im Museum Cluny. Wie aus einer anderen Welt. Als ob man nach einem langen, ungemütlichen Flug landet und die Ohren wieder aufgehen. In den Riesenhallen, mit 150 Leuten auf der Bühne, da hatte ich vergessen, was Singen wirklich ist ... Tausend Jahre Partituren, Joey. Und wir tun, als zählten nur die letzten anderthalb Jahrhunderte. Es ist ein ganzes Schloss, und wir wohnen in einem winzigen Anbau ... Tausend Jahre! Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie groß dieses Haus ist?
Groß genug, dass mein Bruder sich darin verlieren konnte.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich meine Stimme von all den Zirkustricks und dem ganzen pompösen Getue befreit hatte, für das mich die Leute in den letzten Jahren gebauchpinselt haben. Aber jetzt bin ich wieder clean. Ich bin diesem Chor, dem Kampen-Ensemble, nach Gent gefolgt und habe endlich wieder einen Lehrer, der den Namen verdient, nach der langen, einsamen Zeit in der Wüste: Geert Kampen – ein wahrer Meister, und selten ist mir eine musikalischere Seele begegnet. Ich bin nur eine von vielen Stimmen in seinem kleinen Collegium, und wir sind auch längst nicht die Einzigen, die sich mit diesen Sachen beschäftigen. Die Vergangenheit ist plötzlich in Mode gekommen. In den Niederlanden ist es schon eine ganze Schule, und mittlerweile kommt auch Paris auf den Geschmack. Da ist etwas im Gange. Eine neue Bewegung, die die alte Musik wieder ans Licht holt. Ich meine die wirklich alte. Wart's nur ab, Muli. Noch ein paar Jahre, dann hört ihr auch in den Staaten davon. Ihr hinkt ja immer hinterher, selbst wenn's um Sachen von vorgestern geht! Aber wenn es soweit ist, wirst du sehen: Das ist eine ganz neue Art von Nostalgie ... Ich habe schon gelernt, dass man in den flandrischen Läden nicht Französisch sprechen sollte, obwohl man mit Deutsch auch nicht gerade willkommen ist. Selbst wenn ich Englisch rede, werden die Leute nie so ganz das Gefühl los, dass ich ein türkischer »Gastarbeiter bin, der den Einheimischen ihre Maloche in den Bergwerken wegnehmen will. Aber solange ich singe, bin ich in Sicherheit. Es ist mir auch gelungen, das Beste aus Paris herüberzuretten, und ich habe sie mit in die Zivilisation genommen. Sie heißt Celeste Marin.
Sie weiß alles über dich, und wir können es beide gar nicht erwarten, dass du deinen Hintern hierher bewegst und die neue Frau an meiner Seite und meine neue Stimme kennen lernst. Aber warte nicht zu lange. Selbst die Vergangenheit währt nicht ewig.
Je weiter ich las, desto größer wurde meine Panik. Als ich an die Mitte kam, hätte ich ihm am liebsten ein Telegramm geschickt. Mein Bruder hatte ein Maß an Erfolg erreicht, mit dem er das wahnwitzige Experiment unserer Eltern beinahe rechtfertigte. Und jetzt, kurz vor dem Durchbruch zum echten Ruhm, wollte er alles aufgeben für eine Art Sekte. Mein eigenes verkorkstes Leben verlor das letzte bisschen Sinn. Solange ich mich als derjenige fühlen konnte, der sich geopfert hatte, um Jonah zum Start in seine Karriere zu verhelfen, war mein Leben nicht ganz und gar vertan. Aber wenn er jetzt alles hinwarf, dann war ich wirklich verloren. Ich wollte ihm schreiben, aber ich brachte nichts zustande. Ich hatte ja nichts zu sagen außer: Tu's nicht. Verspiel deine Chance nicht. Bleibe bei
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