Der Klang der Zeit
deiner Berufung. Lästere nicht Beethoven. Zieh um Himmels willen nicht nach Belgien. Und vor allen Dingen heirate keine Französin.
Ich kaufte einige Aufnahmen des Kampen-Ensembles; der Laden musste sie erst besorgen. Ich hörte sie mir heimlich an, wenn Teresa nicht zu Hause war, versteckte sie wie Pornohefte an Ecken, an denen sie nie darauf stoßen würde, nicht einmal durch Zufall. Die Platten mit ihren Krummhornklängen hatten einen fremdartigen Charme, wie ein Stück Schmiedeeisen, auf das man in einem Trödelladen stößt, etwas, das einmal für einen Farmer lebenswichtig war, das aber längst für keinen Menschen auf der Welt mehr einen Nutzen hat. Nichts in dem komplexen Gewebe aus Kontrapunkten ähnelte auch nur entfernt einer Melodie, die man summen konnte. Die Sänger nahmen ihre Stimmen zurück, bis sie fein wie Nadelspitzen waren, hielten die Phrasen so fest am Zügel, dass nichts wogte oder vibrierte. Alles was wir an der Musik geliebt hatten, kam hier höchstens in Andeutungen vor, wartete erst noch auf seine Geburt. Ich verstand nicht, was Jonah daran so begeisterte. Er war ein Meisterkoch, der die Geheimnisse der feinsten Soßen kannte, und nun gab er alles auf und lebte von Nüssen und Beeren. Das schien mir ein zu bequemer Ausweg. Aber ich durfte nichts sagen, ein zweitrangiger Klavierlehrer mit fünfzehn Stunden die Woche, ein verkrachter Komponist, der sich von einer Fabrikarbeiterin aushalten ließ. In Atlantic City.
Wenn ich tagsüber allein zu Hause war, holte ich meine geschmug-gelten Platten hervor und hörte sie mir an. Beim dritten Mal trat aus der ältesten unter den Kampen-Aufnahmen ein Lied von Orlando di Lasso hervor. »Bonjour mon cœur.« Ich kannte die Melodie schon aus der Zeit, bevor sie aufgeschrieben war. »Hallo, mein Herz, hallo, mein süßes Leben, mein Auge, meine Freundin.« Und in diesem Stück hörte ich mich, wie ich es zum ersten Mal gehört hatte. Ich war in dieser engen Gasse in die falsche Richtung geflohen, schon bevor wir auf unsere Konzertreisen gegangen waren, vor den Gefängniszellen in Juilliard, vor Boylstons Kammerchor, schon bei unseren allerersten Familienabenden, wo jeder von uns seinen eigenen Part sang. »Hallo, meine Schöne, mein Lenz, meine frische Blume.« Nach den ersten vier Noten des Liedes stand ich draußen vor dem steinernen Raum, in dem ich diese Melodie zum ersten Mal gehört hatte. Ich bin sieben; mein Bruder ist acht. Mein Vater hat mit uns einen Ausflug an die Nordspitze von Manhattan gemacht, zu einem Kreuzgang, wo Sänger ihre geheimnisvolle Kunst entfalten. »Mein Spatz, meine Taube. Guten Morgen, mein sanfter Rebell.« Und nach dem Konzert sagt mein Bruder: »Pa, wenn ich groß bin. Dann will ich das machen, was die Leute da gemacht haben.«
Damals wusste ich nicht, wer »die Leute da« waren. Und ich wusste es auch jetzt nicht. Ich wusste nur, dass wir etwas anderes waren. Als ich das Lied nun hörte, drängte es mich plötzlich, die Cloisters wieder zu sehen, einen Ort, an dem ich seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen war. Wenn ich wieder dort in diesen Räumen stand, kamen vielleicht Erinnerungen zurück, führten mich wieder auf den rechten Weg, halfen mir dahinter zu kommen, was mit Jonah geschah. Ich fragte Terrie, ob sie Lust auf einen Ausflug in die Stadt hätte, und ihre Augen blitzten wie Bonbons.
»Im Ernst? Manhattan? Nur wir zwei?«
»Wir zwei und sechseinhalb Millionen potenzieller Massenmörder.«
»New York, New York! Mein Schatz und ich in der großen Stadt!« Anscheinend war es schon eine ganze Weile her, seit wir zuletzt einen Ausflug gemacht hatten. Ich hatte sie unter die Erde gezogen, ins tiefste Innere meines Verlieses, und sie war mir in die Isolation gefolgt, um der Musik willen. Aber wir hatten feststellen müssen, dass es keine sichere Zuflucht gab, nicht einmal in der Einsamkeit. Gerade da nicht. »New York City! Wir fangen bei Bloomingdale's an und arbeiten uns nach Süden vor. Und wir hören erst auf, wenn wir einen Anzug für dich haben.«
»Ich habe doch einen Anzug.«
»Einen modernen. Einen schönen, in dem du auftreten kannst, mit ausgestellten Beinen und ohne Sicherheitsnadeln am Bund.«
»Wofür brauche ich einen Anzug?« Teresa wand sich unter meinen Worten, das Blitzen erlosch. »Schuhe sind wichtiger«, sagte ich, und ihre Miene hellte sich wieder ein klein wenig auf.
Ich schlug vor, dass wir nach dem Einkaufen doch noch die Cloisters besuchen könnten. Teresa glaubte, es sei eine
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