Der Klang der Zeit
Eigentumsrecht sei das Herz der amerikanischen Gesellschaft, erklärte der Richter, und Diebstahl reiße der Gesellschaft dieses Herz heraus. Als das Urteil verlesen wurde, murmelte Kwame, gerade so laut, dass ich es hören konnte: »So ein Wichser. Schlimmer als tot.«
Zwei Tage darauf schickte meine Schwester ihren Sohn ins Gefängnis. »Dein Vater war auch im Gefängnis. Du weißt warum. Was wirst du jetzt daraus machen? Das will die Welt von dir wissen.« Sie weinte dabei, weinte um alles, was diesem Jungen je widerfahren war. Um das Unglück, das ihm schon Generationen vor seiner Geburt widerfahren war. Kwame konnte den Kopf nicht lange genug oben behalten, um ihr in die Augen zu sehen, und sie fasste ihn ans Kinn und hob ihn für ihn. »Sieh mich an. Sieh mich an. Du hast eine Verantwortung in der Welt.«
Kwame nickte. »Merke ich mir.« Dann winkte er und war fort.
Als Ruth mit mir allein war, brachen die Schleusen. »Wenn ein weißer Teenager ins Gefängnis kommt, ist das eine Randnotiz auf seinem Le-benslauf. Jugendsünden. Später lacht man drüber. Aber kommt ein schwarzer Junge in den Bau, dann ist es einer mehr, der auf der Strecke bleibt. Das Urteil gilt der ganzen Rasse. Das ist ein Loch, aus dem er nie wieder rauskommt. Und es ist meine Schuld, Joseph. Ich habe sie hierher geholt. Wir hätten ja nicht zurück in diesen Hexenkessel kommen müssen. Sie hätten auch irgendwo in der Vorstadt unter Schlafwandlern groß werden können.«
»Das ist nicht deine Schuld, Ruth. Du kannst dich doch nicht verantwortlich fühlen für ein halbes Jahrtausend –«
»Begreifst du, was er Robert damit angetan hat? Ein großer Bruder bleibt ein Held fürs ganze Leben. Ein natürliches Vorbild. Dieser Junge sitzt in seinem Zimmer und zählt an den Fingern eine völlig neue Mathematik ab. Er hat sich die planare Geometrie beigebracht, ohne jede Hilfe. Aber er kann nicht mal fehlerfrei bis zwanzig zählen, wenn sein Bruder ihn dabei schief ansieht. Er will nichts sein, was von ihm nicht gutgeheißen wird. Dabei könnte er alles sein. Er könnte alles sein, was er sein will .. .«
Wir hörten es beide im selben Augenblick, im Augenblick, in dem die Worte aus ihrem Munde kamen. Ruth sah mich an, ihre Nasenflügel bebten. »Ihr Sohn ist ins Ausland gegangen, ihr Enkel sitzt hinter Gittern.« Dann kamen nur noch Schluchzer. »Joey, was haben wir ihr angetan!«
Robert kam in die dritte Klasse, die letzte an der New Day School. Er kam jetzt in das Alter, in dem es Mord war, wenn Ruth ihn zu etwas ermutigte. Wenn sie etwas an ihm lobte, gab er es sofort auf. Er konnte, fast ohne hinzusehen, ein ganzes Blatt mit den unglaublichsten geome-trischen Zeichnungen füllen. Aber wenn sie es an die Wand hängte, riss er es herunter und verbrannte es.
»Ich verliere ihn, Joseph. Noch schneller, als ich Kwame verloren habe.«
»Du hast Kwame nicht verloren.« Kwame hatte im Gefängnis eine Ausbildung als technischer Zeichner begonnen. Wir besuchten ihn fast jedes Wochenende. »Das ist für Scheintote hier«, erklärte er mir. Ich konnte nur staunen, wie präzise er es beschrieb. »Weißt du was? Sie haben dieses Gefängnis für uns gebaut. Und dann haben sie dafür gesorgt, dass wir auch reinkommen. Aber ohne mich. Wenn ich wieder draußen bin, dann kann der Laden hier versauern.« Er und seine Mutter hatten sich ein kleines Ritual ausgedacht, das sie bei jedem Abschied wiederholten. Wie lang? Nicht lang. Wir seh'n uns in der neuen Alten Welt.
Anfang 1992 schrieb Jonah, dass er Ende April in der Stadt sei und beim Berkeley-Festival singen werde. Selbst der fremde Kontinent war nicht mehr weit genug fort. Ich antwortete auf einer Spendenpostkarte der Schule: »Letztes Mal habe ich mir dich angehört.« Und unter die Adresse der Schule schrieb ich das Datum seines Konzertes, die Uhrzeit 1 Uhr 30 nachmittags und die Raumnummer meiner Klasse.
Nicht dass meine Klasse ein Starpublikum gebraucht hätte. Da wo ich herkam, gab es kein Publikum mehr. Es gab nur noch den Chor, und wir hätten geprobt, egal wer zum Begutachten kam und wer nicht. Ich war Musiklehrer an einer Grundschule. Ich lebte für meine Arbeit, und das hörte man dem Gesang meiner Kinder an. Und doch hatte ich Jonah Uhrzeit und Raum meiner besten Klasse geschickt – echte Wunder-kinder, darunter sein Neffe Robert, den er noch nie gesehen hatte. Ich erzählte ihnen, dass vielleicht Besuch vorbeikäme. Aber selbst bei dieser kleinen Ankündigung fühlte ich mich nicht
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