Der Klang der Zeit
In meiner Klasse leuchtete er wie die Morgenröte. Im Chor stützte seine Stimme den ganzen Alt. Aber jedes Mal, wenn seine staunenden Kameraden sich über seine Künste lustig machten, versteckte er sein Licht wieder für einige Wochen unter dem Scheffel.
Als sie in der Klasse etwas über ihren Lieblingsmusiker erzählen sollten, brachte er die Nummer von Ebony mit. Inzwischen war sie schon Monate alt, aber sie beschäftigte ihn noch immer. Die ganze Klasse kicherte, als er seinen Vortrag hielt, und als ich sie zur Ruhe mahnte, wurde es nur noch schlimmer. All diese Schwarzen, die unsere Zukunft bestimmen sollten, fünfzig an der Zahl. Und einer davon sollte Roberts Onkel sein, der tausend Jahre alter Musik eine Zukunft gegeben hatte. Bei einem Bruder, so hatte seine Mutter ihm erklärt, wusste man nie, wozu er fähig war. Stolz stellte Robert ihn vor, doch zweifelnd und verlegen zugleich.
Zwei Tage nach diesem Vortrag kam er mit einem Stapel Papier in die Klasse, jedes Blatt mit großen Buntstifthieroglyphen beschrieben. »Das ist von mir. Das habe ich geschrieben.« Mit eifrigen Worten erklärte er uns das ausgeklügelte Notationssystem, das er erfunden hatte, ein System, das auch die kleinsten Veränderungen in Tonhöhe und -dauer festhalten und vieles bewahren konnte, was auf den herkömmlichen Notenlinien verloren ging. Er hatte verschiedene Stimmen geschrieben, er dachte nicht nur in Melodielinien, sondern auch in einer Folge von vertikalen Augenblicken. Es waren sinnvolle Akkorde – mit Verzögerungen, Wiederholungen, Akkorde, die Früheres wieder aufgriffen, ehe sie zum Ausgangspunkt zurückkehrten. Sein Bruder hatte das kleine elektrische Keyboard, das ich ihnen geschenkt hatte, für ein Butterbrot verkauft. Ein anderes Instrument hatte Ruth nicht im Haus. Robert hatte nicht nur ein Notationssystem von Grund auf neu erfunden, er hatte auch sämtliche Harmonien mit dem inneren Ohr komponiert.
»Wie hast du das gemacht? Woher hast du das?« Ich wurde gar nicht müde zu fragen.
Er zuckte mit den Schultern, duckte sich, sackte zusammen, eingeschüchtert von meiner Ehrfurcht. »Das kommt von mir. Ich hab's ... einfach gehört. Meinst du, es klingt nach was?«
»Das müssen wir ausprobieren. Wir spielen es.« Man konnte sehen, wie ihm bei dem Gedanken schwindelte. »Was hast du dir denn vorgestellt?« Er sah mich verdattert an. »Ich meine, welche Instrumente?«
Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ... gar keine.«
»Etwas Gesungenes?« Er nickte. Obwohl es ihm erst in dem Augenblick aufgegangen war. »Hast du auch einen Text dazu?«
Er schüttelte den Kopf, wild gestikulierend. »Keine Worte. Nur Musik.« Worte würden die Musik verderben.
Er zeigte den anderen, wie sie seine Noten lesen mussten, und wir führten das Stück in der Aula auf. Robert dirigierte. Für die Dauer seines Stückes stieg seine Seele auf einem senfgelben Blitz empor zu dem eisblauen Himmel. Fünf Stimmgruppen sangen in stetem Wechsel, so wie es in seinen Noten stand, prallten aufeinander, arrangierten sich. Sein ruppiger Kontrapunkt kam aus einer anderen Umlaufbahn, einer, die bis dahin keiner gesehen hatte. Die Laute in seinem Kopf ließen ihn den Lärm in der Turnhalle vergessen. Aber im Augenblick, in dem das Stück vorüber war, brach der Lärm über ihn herein.
Der Applaus war so stürmisch, dass Robert beinahe das Atmen vergaß. Er riss die Augen auf, suchte nach einem Notausgang. Die Kinder pfiffen und johlten, forderten ihn heraus. Er verbeugte sich und warf dabei den Notenständer um. Der ganze Saal brüllte vor Lachen. Ich machte mir schon Sorgen, dass er da oben auf der Bühne ersticken würde. Jeder Muskel in seinem Gesicht wollte sagen: Ist doch nichts Besonderes. Nicht der Rede wert. Er schreckte vor jeder Bewunderung zurück und reckte sich doch zugleich, um über die Köpfe der anderen hinweg Ausschau nach der einzigen Meinung zu halten, die für ihn zählte: der seines vergötterten Bruders.
Nach dem Konzert kam Kwame in seinen hängenden Jeans herangeschlurft. Er hatte den eigenen Unterricht geschwänzt, damit er hier dabei sein konnte. Er machte seine üblichen Armbewegungen, die ich niemals zu deuten vermochte, halb Spott, halb Lob. Er verzog das Gesicht. »Wie heißt das Stück?«
Robert wurde immer kleiner. »Ich habe es ›Legende‹ genannt.«
»Was denn für 'ne Legende? Denkst du, du bist 'ne Legende? Ohne Mix is' nix. Auf welcher Seite stehst du, Mann?« Keiner von beiden sah mich an. Das
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