Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
hättest. Mit Handbewegungen ließ ich sie alternieren: eins bis fünf, fünf bis eins.
    Als Nächstes kamen die Modulationen. Ich gab eine Note vor und zeigte mit dem Finger, und dann transponierten drei Sänger ihre Phrasen an diesen neuen Ort in der Tonleiter. Mit acht wussten sie es noch: Ein Ton für jeden Ort, an den wir gehen.
    Ein Grinsen machte sich breit auf den Gesichtern des Chors, aber das lag nicht an meinen Bemühungen. Wie Fische in einem Aquarium bestaunten die Sänger etwas hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um, dirigierte trotzdem weiter, und sah Jonah in der Tür zum Klassenzimmer, sein eigener Mund offen, ein Musterbeispiel, wie man die Kehle öffnete, damit der prachtvollste Ton herauskam. Ich konnte nicht innehalten, um ihn zu begrüßen – ich hatte die Hände voller Noten. Er gab mir zu verstehen, ich solle mich umdrehen und weitermachen, dafür sorgen, dass die Feder weiter auf dem Atem Gottes schwebte.
    Ich ließ die ersten beiden Gruppen verstummen, schickte sie in eine Warteschleife und machte die dritte bereit zur Reise durch die Mollton-arten. Nie im Leben hast du solche Angst gehabt. Lieber würdest du tot umfallen als diese fünf Worte zu hören. Ich hielt meinen Finger in die Höhe, suchte jemanden, der Nichts lastet schwerer auf mir als das singen konnte, und landete bei Robert. Er brauchte nur zwei Taktschläge. Auch er hatte auf seinen Einsatz schon gewartet.
     
                       Mein Daddy ist tot
                       und mein Bruder gefangen.
     
    Wann ist der Punkt erreicht, an dem alles still steht, der Punkt, an dem die Zeit beginnt? Nicht beim Big Bang, nicht mal beim kleinen. Bestimmt nicht, wenn man den Takt seines ersten Liedes lernt. Nicht bei dem ersten Jetzt, das an den Anfang zurückkehrt. Alle Augenblicke beginnen mit dem einen, an dem wir sehen, wie alle enden müssen.
    Robert spann seinen Faden, verwob ihn Schlinge um Schlinge mit dem elementaren Bass. Eine düstere Wolke senkte sich über den Chor, aber unser Lied hatte den Stimmungswechsel schon vorbereitet. Jetzt hatten meine Jongleure so viele Töne in der Luft, dass wir alles singen konnten, wonach uns der Sinn stand. Ich flocht die Melodien ineinander, ließ sie an– und wieder abschwellen, verlangsamte sie, dann gab ich ihnen wieder Tempo, kappte sie, zog sie in die Länge, löste ein Solo heraus, stellte Quartette zusammen, ließ alles nach Belieben zwischen den Tonarten wandern.
                  
                    Mein Daddy ist tot,
                    Da bin ich gelaufen,
                    Zu dem Platz auf dem Berg,
                       Frühstück ist fertig, und da sitz ich und schaue,
                    Doch mein Bruder, der ist gefangen.
     
    Sie wussten längst, was sie zu tun hatten. Um den seltsamen Besucher kümmerten sie sich gar nicht mehr, hatten ihn schon wieder vergessen. Wir hielten uns prächtig, machten unser Lieblings-Rondo daraus. Wenn wir zu weit vom Pfade abwichen, machten wir kehrt, bis schließlich der ganze Chor »I'm still standing« brüllte. Ich zog sämtliche Register, alles, was ich je von meinen Schülern über Musik gelernt hatte. Ich schämte mich, dass ich es so nötig hatte, ihn zu beeindrucken. Als ob man sich für Freude rechtfertigen müsse oder als ob Freude etwas rechtfertigte. Und meine Beschämung feuerte mich nur noch weiter an, aus meinen Stimmen das Äußerste herauszuholen.
    Wir schwangen uns in nie erreichte Höhen auf, kehrten zurück, und ich ließ die Wasser zu einer weiteren großen Woge anschwellen, bevor wir auf Meereshöhe zurückkehrten. Doch als wir auf dieser letzten Woge ritten, hörte ich einen Laut wie Glockenläuten. Es kam mit der Wucht eines Unwetters. Ich hatte keinen Einsatz dazu gegeben, die Stimmen meiner Schüler hätten ihn nicht hervorbringen können, aber er fügte sich in ihre Harmonien ein, Noten, so lang und leicht, dass sie beinahe zeitlos waren. Ich brauchte einen Augenblick, eine Ewigkeit, bis ich begriff, was das war: Mein Bruder sang. Time stands still. Die Melodie kam ganz vom anderen Ende unseres Lebens. Aber die Worte waren erst vom Tag zuvor:
     
    Der Fisch und der Vogel können sich verlieben.
     
    Ich wollte mich nach ihm umdrehen, doch Jonah scheuchte mich zurück. Er trat vor, stellte sich in die hinterste Chorreihe und sang mit. Die Töne kamen mit einer solchen Resonanz, es klang wie ein

Weitere Kostenlose Bücher