Der Klang der Zeit
wohl.
Ich arbeitete hart daran, dass dieser Tag wirken würde wie jeder andere. Jonah würde ohnehin nicht kommen – dafür hatte ich mit der Wahl des Datums gesorgt. Am Nachmittag vor einem Konzert unternahm er nie etwas. Aber wenn es in einem Paralleluniversum doch anders kam, dann waren wir bereit und würden ihm eine Musik vorführen, wie er sie noch nicht gehört hatte.
Als der Zeitpunkt näher rückte, packte mich ein Lampenfieber, das schlimmer war als der Anfall, der uns seinerzeit beinahe Jonahs Triumph in seinem ersten großen Wettbewerb gekostet hätte. Kinder spüren alles, und meine machten sich über mich lustig, wobei der Spott, wie es die Regel vorschrieb, gesungen wurde. Ich brachte sie einigermaßen zur Ruhe und begann mit einem behutsamen Crescendo, unserer üblichen Aufwärmübung. »I'm still standing« bis an die oberste Grenze ihres kichernden Stimmbereichs, dann ganz sanft wieder nach unten. Mein Bruder ließ sich nicht blicken. Wie nicht anders zu erwarten. Außerhalb des Konzertsaals war nichts von ihm übrig. In seiner Vollendung hatte er sich aufgelöst. Ich spürte die Erleichterung darüber, dass mir diesmal die Begegnung erspart bliebe.
Wir sangen unsere Lieder. Nicht trotz. Nicht einmal ohnehin. Jetzt, wo niemand zu beeindrucken war, blieb das reine Vergnügen: Das Einzige, was wir haben, wenn wir nur genau genug hinsehen. In einer immer größer werdenden Spirale schraubten wir uns zu unserer täglichen Ekstase hinauf. Zuerst sangen wir den Grundrhythmus, auf dem alles andere aufbaute – das was mein Vater früher immer den »Klang der Zeit« genannt hatte. Zwei Kinder an Tom-Toms sorgten für den Groove, und der konnte bleiben, wie er war, solange wir überhaupt in Bewegung blieben. Dann kam der Beat dazu, Burundi-Trommeln, ein langer, entspannter vierundzwanzigschlägiger Zyklus, in den ein weiteres halbes Dutzend Schlaginstrumente einstimmte, ein Rhythmus, wie sie ihn mit Begeisterung ihr ganzes Leben lang gespielt hätten, vielleicht auch noch länger.
Als wir sämtliche Bälle in der Luft hatten, kamen die Melodien. Für die Kinder war das Routine. Sie hatten es so oft geübt, dass sie perfekt waren, jedenfalls nach Grundschulmaßstäben. Ich saß am Klavier und dirigierte zugleich, hob den Finger und wies damit auf ein Mädchen im grünen Pullover, die Haare zu Zöpfchen geflochten; sie grinste, hatte schon gewusst, dass ich sie aussuchen würde, bevor ich es wusste.
»Woran denkst du, wenn du morgens aufwachst?« Ich warf ihr die Frage über die Trance des kreisenden, pulsierenden Rhythmus hinweg zu. Das Mädchen, meine Klassenbeste Nicole, war bereit.
Frühstück ist fertig,
und ich freu mich schon drauf!
Es herrschte ein einziges Tohuwabohu, aber der Rhythmus trug uns weiter. Sie sang ihr Solo, dann fügte sie dem Singsang ihre eigene Schleife hinzu. Wir nahmen ihre Stimmlage als Leitton, unsere Bodenstation, und machten uns auf den Weg. Ich wies auf einen weiteren Lieblingsschüler, den eifrigen, schlaksigen Judson, der den Fuß im Takt mitwippen ließ, in Turnschuhen, so breit wie seine Brust. »Was hast du gestern Abend gedacht, bevor du einschliefst?«
Ich bin gelaufen,
durch 'nen silbernen Tunnel,
kein anderer so schnell.
Die beiden umkreisten einander, fanden ihre Einsätze, probierten Tonhöhen und Synkopen, bis sie passten. Ich holte weitere in dieses Spiel hinein. »Was ist für dich der sicherste Ort auf der Welt?«
Ein Platz auf dem Berg,
wo die Straße hinführt,
da sitz ich und schau
über alles hinweg.
»Was hast du auf dem Schulweg gesehen? Wann fühlst du dich am wohlsten? Wer wirst du sein, nächstes Jahr um diese Zeit?« Alle kamen mit auf das Karussell, bei manchen kappte ich eine Phrase, bei anderen zierte ich eine Note aus, gab dem einen mehr Tempo, bremste den anderen, bis alles zusammenhielt. Ein halbes Dutzend Sänger war gleichzeitig in der Luft und hielt sich bei den Händen, im unablässigen Wandel und doch unveränderlich. Ich ließ sie in einem Diminuendo verstummen, dann schickte ich fünf neue ins Rennen. Wieder gab ich den Ausgangston vor und gruppierte dann meine Sänger um die Dominante. Deine fünf Lieblingsworte. Der perfekte Sonntagnachmittag. Dein Name, wenn du einen anderen Namen
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