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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Ärzte, Sportler und Künstler, überlegte bei jedem Kandidaten, was sie denn so in Rage gebracht hatte. Ich musste fast den gesamten Artikel durchsehen, bevor ich ihn entdeckte. Ich blickte zu meiner Schwester auf. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Wie ist das möglich, Joey? Kannst du mir das sagen?« Sie stampfte mit dem Fuß. »Schlimmer, als wenn er in einer Minstrelshow aufträte.«
    Ich sah mir noch einmal die unglaubliche Seite an. »Keine Ahnung. Der Gauner lebt nicht mal in Amerika. Aber so weit unten auf Platz zweiund-vierzig, da kann er keinem was anhaben.«
    Sie stieß einen grässlichen Laut aus. Ich brauchte zwei Sekunden, bis ich mir sicher war: Sie lachte. Ein irres Lachen. Sie streckte die Hand aus. »Gib das Ding wieder her. Das muss ich meinen Söhnen zeigen.«
    Ich war dabei, als sie es ihnen zeigte, abends beim Essen. »Euer Fleisch und Blut«, sagte sie. »Ich habe diesen Jungen gekannt, als er nicht größer war als ihr. Da könnt ihr sehen, was man erreichen kann, wenn man sich auch nur ein bisschen anstrengt. Seht euch doch nur an, mit was für Stars er da zusammen ist. Was die schon alles für uns getan haben.«
    »Die Hälfte von denen ist doch praktisch weiß«, erklärte Kwame.
    Ruth starrte ihn an, bis er den Blick senkte. »Welche Hälfte? Das möchte ich wissen.«
    »Diese ganzen Technokraten. Hier der Motherfucker. Der kapiert über-haupt nicht, was für ein Scheißer er ist. Aufsichtsratsvorsitzender? Vor-sitzender auf 'm Bahnhofsklo.«
    »Der hier«, sagte der kleine Robert, zeigte auf ein Foto und lachte, »der ist ein Weißer, oder?«
    »Was macht ihn zum Weißen?« Ruth war hartnäckig.
    »Das da«, sagte Kwame und tat die ganze Zeitschrift damit ab. »Das weiße Drecksblatt.«
    »Und was wenn ich euch sagen würde, dass die Hälfte aller Weißen schwarz ist und keine Ahnung hat?«
    »Dann würde ich sagen, fick dich ins Knie. Verarscht ihre eigenen Kinder.«
    Ihre Mutter warf mir einen flehenden Blick zu. »Sie hat Recht«, sagte ich. »Ein Weißer muss immer beweisen, dass er weiß ist, bis an den Anfang aller Tage. Und wer kann das schon?«
    Mein Neffe musterte mich abschätzig: ein hoffnungsloser Fall. »Was ist denn das wieder für 'n Scheiß? Echt bescheuert, Mann.«
    Der kleine Robert hob beide Arme und verkündete: »Der Ursprung des Menschengeschlechts liegt in Äthiopien.«
    Kwame nahm seinen kleinen Bruder in den Schwitzkasten und fuhr ihm mit der Hand über den Schädel, bis der Siebenjährige vor Vergnügen juchzte. »Da hast du Recht, Klugscheißer. Du bist meine Hoffnung für die Zukunft. Du bist die fünfzig Größten, alle in einem.«
     
    Robert war die Art von Kind, dem die Schule seiner Mutter auf den Leib geschneidert war. Er bewältigte das Pensum in einem Tempo, das seine unbedarfteren Altersgenossen in Angst und Schrecken versetzte. Jedes kleine bisschen Wissen, das seine Aufmerksamkeit erregte, katapultierte er an den Himmel wie einen glitzernden Stern. Bei jeder Geschichte jubilierte er vor Vergnügen. »Stimmt das auch?«, wollte er bei den Bü-chern, die man ihm zu lesen gab, wissen. »Ist das wirklich passiert?«
    Er war das Ebenbild seiner Mutter, konnte Stimmen nachmachen, legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen wie der lächerlichste Erwachsene. Aus Legosteinen baute er einen marschierenden Roboter, der eine halbe Stunde lang den ganzen Unterrichtsbetrieb in der ersten Klasse zum Erliegen brachte. Mathematik war ein Kinderspiel für ihn. Er löste Aufgaben, die für den Unterricht zwei Klassen höher gedacht waren. Mit Spielgeld und einer Weltkarte erläuterte er, wie der Welt-handel funktionierte. Er zeichnete die unglaublichsten Sachen.
    Beim Geschichtsunterricht lauschte er so aufmerksam, dass er das Atmen vergaß; er begriff noch nicht ganz, dass alles, was dort erzählt wurde, längst vorbei war. Er weinte, als er von den Sklavenschiffen hörte, den verschlossenen Luken, den Versteigerungen, den zerstörten Familien. Für Robert geschah alles, was einmal geschehen war, auch weiterhin, irgendwo.
    Aber er blieb nur in der Luft, solange keiner hinsah. Sobald ihm jemand ein Kompliment machte, beobachtete er sich selbst im Fluge und stürzte ab. Wenn die Welt ein schwarzes Kind lobt, verliert das Kind vor Schreck allen Schwung. Das hatte ich am eigenen Leib erfahren. Man musste Robert nur klarmachen, wie begabt er war, schon entschuldigte er sich dafür. Er wollte doch nur geliebt werden. Etwas Besonderes sein hieß Außenseiter sein.

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