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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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die unverbindlich genug blieb. Dann wandte er sich zu mir und klopfte mir auf die Schulter. »Du bist ein Meister. Der Karajan der Musik. Das nenne ich Pädagogik. Taktstock statt Rohrstock.« Er blickte hinunter auf den Jungen, halb so groß wie er. Die Ähnlichkeit war enorm, und ich sah, wie verblüfft er war.     
    »Schwestersohn«, sagte er ehrfurchtsvoll.
    »Soll das so was wie 'n Neffe sein?«, fragte Robert, der eine Schwäche für Rätsel aller Art hatte.
    Jonah nickte feierlich. »Es ist sogar sehr so was wie ein Neffe.« Er blickte Ruth an. »Unglaublich. Er ist wunderbar.«
    »Wieso sollte das unglaublich sein?« Die Erinnerung von zwanzig Jahren.
    »Das nicht. Aber mein Glück, dass ich ihn sehen darf.«
    Robert sah ihn misstrauisch an. »Du machst komische Sachen mit deiner Stimme.«
    »Dass ich überhaupt hier stehe. Dich wiedersehe.«
    Ruth warf den Kopf in den Nacken. »Du bist dicker geworden«, sagte sie. Sie musterte ihn. Jonah streckte die Arme aus und blickte an sich herunter. »Ich meine ...« Sie sah sich selbst an.
    »Sag nicht dicker. Sag solider.«
    »Warum bist du hier? Warum bist du zurückgekommen?«
    Widerstrebend verließen die Chorsänger den Raum und begaben sich zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde. Meine Schüler.
    Jonah stürmte zur Tür, gab jedem beim Hinausgehen einen Klaps in die Hand. Damit gewann er Zeit. Er kehrte zurück, richtete das Wort an Robert und sah sich dabei im Raum um. »Sieh sich das einer an. Ich hatte ja keine Ahnung. Das ist also deine Schule.«
    »Die von meiner Mama«, sagte Robert.
    »Deine«, sagte Ruth. Jetzt kamen die Tränen. Aber dafür hatte sie ihre Stimme wieder gefunden.
    »Großartig war das«, sagte Jonah. »So viel Spaß beim Singen habe ich nicht mehr gehabt seit ...« Er sah Robert an. »Seit ich du war. Diese Töne! Das ist die Musik der Zukunft. Kein Mensch hat so etwas je gehört.«
    Ruth quittierte es mit einem ungläubigen Lachen. »Vielleicht keiner wie du.«
    »Ich meine das ernst. Was für ein Sound. Da könnten wir was draus machen. Groß ins Geschäft kommen. Glaubt mir, die Leute warten auf sowas!«
    Ruth schüttelte den Kopf, aber sie musste doch grinsen. »Die Leute kennen das seit Ewigkeiten.«
    »Ich nicht.«
    »Sag ich doch.«
    »Ruth. Ich bin hier. Ich bitte dich um etwas. Du kannst mich doch nicht einfach wegstoßen.«
    »Du bist weggegangen.«
    »Du hast deine Arbeit«, sagte ich.
    Davon wollte er nichts hören. »Seit fast zwei Jahren läuft das auf Autopilot. Es gibt nichts Neues mehr in der Alten Musik. Die Zeit der Himmelsstürmer ist vorbei. Ich will wieder auf die Erde zurück.«
    »Du?« Ich horchte auf ironische Töne, aber es war ihm ernst. »Du kannst nicht aufhören. Eine sterbende Kunst. Wer soll sie denn am Leben halten, wenn du aussteigst?«
    »Da mach dir mal keine Sorgen. Die Musik des Abendlandes ist in guten Händen. Bei Millionen von Koreanern und Japanern.«
    Da spürte auch Ruth es. In wie bodenlose Tiefe er gestürzt war. Meine Schwester fasste ihren Sohn bei den Schultern, hielt ihn vor sich wie einen Schild. Sie streckte den Arm aus und packte Jonah im Nacken. »Manche sterben und sind nicht klüger als bei ihrer Geburt.«
    »Alle«, sagte ich.
    Jonah lächelte. Seine Schwester sprach wieder mit ihm, berührte ihn sogar. Da konnte sie noch so große Gemeinheiten sagen.
    »Wie sieht's aus, Neffe?« Jonah blickte hinunter zu Robert. Dem Boten der Zukunft. »Singst du mit mir?«
    »Meine Mama sagt, du bist ein Land für dich. Du machst immer deine eigenen Regeln.«
    »Wo hast du das gehört?«, fragte Ruth. »Nie im Leben habe ich ...«
    »Hast du mal was ausgefressen?«
    Jonah betrachtete sein Ebenbild in halber Größe. »Dauernd. Ich und dein Onkel Jojo hier? Es gab kein Gesetz, das wir nicht gebrochen haben. Wir haben Gesetze gebrochen, von denen hast du noch nie gehört.«
    Robert blickte mich ungläubig an. Aber auch an seinem Unglauben zweifelte er, als er sah, wie mir die Erinnerung kam. »Wart ihr auch mal im Gefängnis?«
    Jonah schüttelte den Kopf. »Sie haben uns nie gefasst. Ein paar Mal waren wir in der Zeitung, mit Fahndungsfotos sogar. Aber wir haben uns nie schnappen lassen.« Und er legte den Finger an die Lippen, verpflichtete den Jungen zur Verschwiegenheit.
    »Habt ihr mal einen umgebracht?«
    Jonah überlegte. Jede Ausflucht war unmöglich geworden. »Ein paar. Einmal habe ich eine Frau in einen Ofen gesteckt. Da war ich kaum älter als du.«
    Der Junge sah Hilfe suchend

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