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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Richtung, bleibt stehen, hoffnungslos, dann stürmt er wieder in die andere zurück. Die Menge ist nicht feindselig. Nur noch ganz in Gedanken.
    Ihr Deutscher, dieser hilflose Ausländer, dem sie gerade für immer Lebewohl gesagt hat, ruft dem Kind etwas zu: »Was ist passiert?« Beinahe hätte der Junge Reißaus genommen, und sie hätten ihn für immer verloren.
    »Ist schon gut«, sagt sie. Eine Stimme aus der Vergangenheit. »Wir tun dir doch nichts.«
    Und er kommt zu ihnen. Als hätte seine Mutter ihn nie vor fremden Menschen gewarnt. Er kommt zu ihnen wie magisch angezogen von diesen seltsamen Gestalten. Sie kann sich nicht erklären, warum er sie so ungläubig ansieht. Aber dann begreift sie.
    Er will wissen, wo sie wohnt. »Nicht weit von hier«, antwortete sie, obwohl sie genau weiß, was er eigentlich fragen will.
     »Mein Bruder hat sich verlaufen.«
     »Ich weiß, Kleiner. Wir suchen ihn einfach zusammen.«
    » Er sagt ihr, wie er heißt. Ein Name, den sie noch nie gehört hat. Sie will den Jungen dazu bringen, dass er ihnen die Stelle zeigt, wo er seinen Bruder aus den Augen verloren hat. Aber die langen Fluchtlinien von Washington, der Fluss der sich auflösenden Menge und die wachsende Furcht nehmen ihm jeden Anhaltspunkt. Er zerrt sie an eine Stelle, überlegt es sich anders, zerrt sie anderswohin.
    Das rettet sie vor ihrer eigenen Verwirrung. Sie ist noch immer unsicher auf den Beinen, erschüttert von Miss Andersons überirdischer Kraft. Die Fäden dieser Klänge hüllen sie ein wie Spinnweben, die sie vergeblich abzuwischen versucht. Da ist etwas zwischen ihr und diesem Mann, eine Verbindung, die einen Augenblick lang aufblitzte und an die sie nicht einmal denken will. Nein, keine Verbindung, nur gemeinsame musikalische Vorlieben. Keine Kraft außer der Stimme, die sie gerade gehört haben. Aber es ist mehr: Er hat sie singen gehört, laut und ver-nehmlich, und hat es als Geschenk empfunden, als etwas vollkommen Normales. Das Erschrecken darüber, dass sie dies eine Mal nicht einfach nur als Rasse wahrgenommen und auch nicht als »eine von uns« vereinnahmt worden war. Darüber, dass er sie einfach nur als Mensch gesehen hatte, als jemanden, der Musik kennt und den richtigen Ton trifft. Der jedes Recht hat, diese Noten zu singen.
    Sie ist froh, dass der Junge da ist. Seine handgreifliche Not hält sie noch für eine Weile zusammen. Sie haben sich schon Lebewohl gesagt. Der riesige Kontinent der Unwissenheit dieses Deutschen, das süße Land der Freiheit, das ihm nicht den leisesten Anhaltspunkt zum Verstehen gibt, liegt unüberwindlich vor ihnen. Sie kann es ihm nicht erklären. Kann ihm nicht klarmachen, in welchen Krieg er hineingeraten ist auf seiner Flucht, gerade erst der anderen Gewalt entronnen. Die Liste der Dinge, die sie niemals übereinander wissen können, ist länger als unendlich. Wie stets muss die Neugier schon in der Wiege sterben. Aber für diese wenigen Augenblicke ist der verirrte Jungen eine Aufgabe, die sie zusammenhält.
    Der Deutsche fasziniert diesen Jungen namens Ode. Er hat etwas Unbe-greifliches, etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt. »Wo kommst du her?«, will er wissen, und der Mann antwortet ohne mit der Wimper zu zucken: »New York«.
    »Meine Mama ist auch aus New York. Kennst du meine Mama?«
    »Ich wohne noch nicht lange da.«
    Der Junge geht zwischen ihnen, hat sie beide an der Hand gefasst. Die Angst macht das Kind Jahre jünger. Er ist so verängstigt, wirkt nicht älter als sieben. Er spricht so schnell und überdreht, dass man ihn kaum verstehen kann.
    »Ich würde Sie sehr gern wiedersehen«, sagt David Strom über den Kopf des Jungen hinweg.
    Was sie schon die ganze Zeit befürchtet hat, gewusst. Sie hat gehofft, dass es nicht so kommt, und doch mit angehaltenem Atem darauf gewartet. »Verzeihung«, sagt sie, obwohl sie selbst nicht verzeihen kann. »Es ist unmöglich.« Sie will sagen: Es ist ein Naturgesetz. Genau wie die, mit denen Sie sich beschäftigen. Es hat nicht das Geringste mit mir oder Ihnen zu tun. So sind die physikalischen Gesetze der Welt, in der wir leben. Die simplen Tatsachen.
    Aber der Physiker antwortet nicht. Er zeigt auf das Denkmal, wo Miss Andersons Worte noch nicht ganz verhallt sind. »Da müssen wir hingehen. Von da können wir alle sehen und sind für alle sichtbar. An der Statue von dem Mann dort.«
    Ode ist entsetzt, dass er Lincoln nicht erkennt. Delia ist entsetzt, dass der Junge den großen Befreier als Rassisten

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