Der Klang der Zeit
Feuer seines Willens. Ihr seid frei bespuckt zu werden, lehrte er sie. Frei betrogen zu werden. Frei geschlagen zu werden. Frei in die Falle gelockt und bei jeder Gelegenheit hintergangen zu werden. Frei zu entscheiden, was man mit solcher Freiheit anfängt. Der eiserne James und seine stählernen Söhne schlugen Angreifer in die Flucht, verschanzten sich, eroberten sich eine Nische im Leben und bauten das Geschäft weiter aus. Nach unsicheren Anfängen warf es, solange James lebte, Jahr für Jahr seinen bescheidenen Gewinn ab.
Daleys Frisiersalon behauptete seine Stellung, nur wenige Minuten vom Ufer des Delaware entfernt. Anfangs gab es nur einen Friseursessel, später kam noch ein zweiter hinzu. Von klein auf wussten die Söhne, es war ihnen bestimmt, glatte, hellblonde Haare zu schneiden. Die Haare ihrer Freunde oder Verwandten durften sie in ihrem eigenen Laden nicht schneiden, durften sich nicht einmal gegenseitig frisieren, allenfalls nach Ladenschluss, bei heruntergelassenen Jalousien. Sie durften mit dem weißen Mann sprechen, ihn sogar berühren, solange sie eine Schere in der Hand hielten. Sobald sie am Abend die Schere beiseite legten, galt die kleinste Berührung als Übergriff.
James' zweiter Sohn, Frederick, arbeitete noch mehr als sein Vater. Er trug den Kopf so hoch, dass er – als wolle er den Himmel erstürmen –seinen eigenen Sohn Nathaniel zum Studieren ins Nachbarstädtchen Oxford schickte, wo er das neu gegründete College für Farbige besuchte, das Ashmun Institute, das schon bald in Lincoln University umbenannt werden sollte. Nathaniel finanzierte sein Studium durch Gesang in einem Gospelquartett. Als er zurückkehrte, bewegte er sich auf eine Art und Weise, die sein Vater nicht verstand und sein als Sklave aufge-wachsener Großvater nicht einmal bemerkte.
Das College heilte die Doppelnatur der Daleys nicht; im Gegenteil: Es vertiefte die Kluft. Nathaniel erreichte seinen Abschluss im Sturmschritt, sprach von Medizin, der Kunst des Heilens – davon, dass dies jahrhun-dertelang die Domäne der Barbiere gewesen sei, damals, als Barbiere auch Zahnärzte und Chirurgen waren. »Ärzte im kurzen Kittel«, be-lehrte er seine Brüder, und wurde gnadenlos ausgelacht. Aber er blieb dabei, und sie verstummten. »Das waren wir früher. Das haben wir gemacht. Das werden wir auch wieder tun.«
Als der eiserne James starb, konnte er kaum begreifen, einen wie weiten Weg er zurückgelegt hatte. Doch bevor er sein irdisches Dasein beendete, erlebte er noch, wie sein Enkel aus dem familieneigenen Frisiersalon eine kleine Apotheke machte. Das war Jahrzehnte vor der Great Migration, der massenhaften Zuwanderung ehemaliger Sklaven in den industriellen Norden; damals konnten die Daleys sich im Zug noch hinsetzen, wo sie wollten, sie konnten in Warenhäusern einkaufen, die ihre Dollars gerne nahmen, und sogar ihre Kinder auf weiße öffentliche Schulen schicken. Rasse war noch nicht ganz das, was sie einmal werden sollte. Die Kunden der Daley-Apotheke gehörten beiden Rassen an, und alle wussten sie gute Arzneien zu vernünftigen Preisen zu schätzen. Erst als die Flut aus dem Süden einsetzte, spaltete sich die Kundschaft und sollte gespalten bleiben.
Nathaniel Daley verschaffte der Familie ein gesellschaftliches Ansehen, das kein schwarzer Daley je gekannt hatte. Er sicherte sein Geschäft mit den gleichen legalen Tricks wie die versierten Weißen, genau die Weißen, die hin und wieder vorbeikamen, um ihm ein wenig die Flügel zu stutzen. Die Zeit verging, und die Apotheke trotzte allen Unbilden. Beinahe glaubten die Daleys, sie seien Mitspieler in einem fairen Spiel.
William, der Urenkel, setzte zu einem Höhenflug an, der selbst Nathaniels kühnste Hoffnungen übertraf. Er wagte sich vor nach Washington, in die Bastion an der Grenze zum alten Süden, und begann ein Studium an der Howard-Universität. Als er knapp ein Jahrzehnt später zurückkehrte, war er Doktor der Medizin und ein verbrieftes Mitglied der geistigen Elite des Landes. Er sprach nie von den Jahren dazwischen, die ihn zweimal an den Rand des psychischen Zusammenbruchs geführt hatten. Am Medizinstudium scheiterten selbst Leute, die nicht auf Schritt und Tritt mit Rassenschranken zu kämpfen hatten. Aber William bewältigte den Stoff, kannte schließlich jeden Muskel, jede Ader und jeden einzelnen Nerv, aus dem sich der gottgleiche Körper eines jeden Menschen zusammensetzt.
Dr. William Daley beendete seine praktische Ausbildung an just
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