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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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pudicitia.           Scham und liebendes Verlangen.
     
    Sed eligo quod video,                     Doch ich wähle, was ich sehe,
    collum iugo prebeo                        Biete meinen Hals dem Joch,
    ad iugum tarnen suave transeo.   Trete unters Joch, das doch so süß.
     
    Bei den Proben stieg Jonah unter János' Leitung zu den unglaublichsten Höhenflügen auf. Sie nahmen das Stück mit der Hälfte des angegebenen Tempos. Jonah schwebte hinein, stand über dem Orchester wie ein regloser Eisvogel. Es war zwei Jahre vor dem Sputnik, aber das lange, langsame Fließen der Melodie war wie etwas, das aus dem Weltall kam. Jeder Sänger sagt einem: Je weicher der Ton, desto schwerer ist es. Laut-hals zu singen ist leichter als verhalten zu singen. Aber irgendwie hatte mein Bruder es von frühester Kindheit an verstanden, leise Klänge hervorzubringen, die nach mehr klangen als bei anderen die lauten. Und mit diesem atemberaubenden Talent zum piano sang er »In trutina«.
    Jonah traf bei jeder Probe den richtigen Ton außer bei der Generalprobe, wo die fremden Instrumentalisten, die nicht ahnten, was sie erwartete, so sehr die Ohren aufsperrten, dass sie aus dem Takt kamen. Wir vom Chor wussten, wenn wir es bis zu Jonahs Nummer schafften, dann waren wir über den Berg. »In trutina« war der eine sichere Gewin-ner in unserem allzu ehrgeizigen Programm, der perfekte, fast stille Höhepunkt, den nur die Musik erklimmen kann.
    Zu dem Gedenkkonzert kamen mehr berühmte Musiker in den Berk-shires zusammen als je einer von uns gesehen hatte. Fast das ganze Bostoner Symphonieorchester war da, dazu etliche Solisten und Komponisten, die Koussevitzky – durch die Aufträge und Engagements, die er ihnen mit allen erdenklichen Tricks besorgte – vor dem Hungertuch bewahrt hatte. Als die Gäste im Saal Platz nahmen, kam Earl Huber gelaufen und packte Jonah am Arm. »Da ist Strawinsky! Strawinsky sitzt da draußen im Publikum!« Aber ich fand, der Mann, den er uns zeigte, sah eher wie unser Klempner zu Hause aus als wie der größte Kompot nist des Jahrhunderts.                                                                    
    Selbst die gestandenen Profis, die mit uns auf die Bühne sollten, waren nervös bei so viel Prominenz. Jonah und ich blieben zusammen in den Kulissen, bis wir an der Reihe waren. Er konnte nicht begreifen, was Lampenfieber war. Es machte ihm Angst, wenn er es an mir sah. Er selbst fühlte sich nie sicherer als wenn er den Mund öffnete und Töne herauskamen. Aber dort auf der Bühne des Berkshire-Festivals lernte auch er, was Schrecken war.
    Reményi dirigierte die Einleitung zu »In trutina« in dem getragenen Tempo, in dem sie es einstudiert hatten. Jonah begann seine Melodie, als sei es etwas, das ihm gerade erst eingefallen sei. Am Ende der ersten Strophe ritt er auf einer Woge des Zweifels – Lust und Laster im tosenden Wettstreit.
    Und genau diesen Augenblick suchte sich seine Stimme aus und brach, wie eine Welle auf einen Felsen schlägt. Keiner von uns hatte in der ersten Strophe auch nur ein Kratzen gehört. Aber als er zum »Sed eligo quod video« einsetzte, kam der nächste Ton nicht. Ohne zu überlegen setzte er eine Oktave tiefer an, mit nur einem Sekundenbruchteil der Unsicherheit. Er hatte die erste Strophe als Sopran ausklingen lassen, in der zweiten kehrte er als junger Tenor zurück.
    Die Wirkung war atemberaubend. Für die wenigen im Publikum, die Latein konnten, gewann das Gedicht eine Tiefe, die es nie wieder in einer anderen Aufführung bekommen würde. Später fragten etliche Reményi, wie er auf diese geniale Idee gekommen sei.
    Niemals mehr sollten wir das hohe D hören, das Markenzeichen meines Bruders, so schwerelos schwebend, als habe die Erde keine Macht über ihn. Nie wieder der unschuldige Aufstieg in luftige Höhen, der erste raue Ton der Ekstase, der Aufschrei des blanken Entzückens, als habe er erst im selben Augenblick entdeckt, was Höhepunkt bedeutete und wie er sich dazu bringen konnte, wann immer er wollte. Auf der langen Busfahrt zurück nach Boston, neben mir im Dunkel, sagte Jonah: »Na Gott sei Dank, das wäre überstanden.« Und lange Zeit dachte ich, er meine das Konzert.

ENDE   1843  –   ANFANG   1935
     
    Delia Daley war hellhäutig. In den Augen ihres Landes heißt das: nicht weiß. In Amerika sagt man »hell« und meint

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