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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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dem Negerkrankenhaus, in dem die Mitglieder seiner Familie seit Generationen als Musterpatienten gelitten hatten. Ein schwarzer Arzt: Allen verwunderten und erschrockenen Blicken begegnete er mit kühler Gelassenheit. Mehr noch: Wie Dutzende seinesgleichen in der Stadt kämpfte er um eine ordentliche Anstellung an der Einrichtung, an der er Sklavendienste leistete. Erfolg, sagte er immer, war nur eine Frage uner-müdlicher harter Arbeit. Aber manchmal, wenn er nachts ins Grübeln geriet, fand selbst William die Luft in diesen neuen Höhen Schwindel erregend dünn.
    Zwar hatte James schon lange den Schleier durchschritten, hinter dem keine Farbe mehr zählte, aber Frederick erlebte noch mit, wie sein Enkel-sohn in einem gemischten Wohnviertel im siebten Bezirk, südlich vom Stadtzentrum, eine bescheidene Praxis eröffnete. Das war der Ort, wo ein Mädchen namens Nettie Ellen Alexander über ihn hereinbrach wie eine Naturgewalt, und er erlag diesem Ansturm wie die Stadt Johnstown der verheerenden Flutwelle des Jahres 1899. Er hatte weder nach ihr gesucht noch war er auf ihr Kommen vorbereitet. Ganz unvermittelt tauchte sie auf und brachte sein Leben durcheinander, gerade einmal zwanzig Jahre alt, hinreißender als alles, was er je bewusst wahrgenom-men hatte, ganz gleich welcher Hautfarbe. In den acht langen Studien-jahren hatte er außer in Anatomiebüchern keine Frau angesehen. Und als er jetzt ganz unvermittelt auf dieses Mädchen stieß, hätte er am liebsten gleich am ersten Nachmittag alles Versäumte auf einen Schlag nachge-holt.
    Nettie strahlte ihn an, obwohl sie ihn doch gar nicht kannte. Ließ die perfekten Elfenbeinzähne blitzen, als ob sie sagen wollte: Wird aber auch Zeit, dass du kommst. Lächelte ihn an, weil sie ihn nicht kannte, aber genau wusste, dass sie ihn bald besser kennen würde. Ein ganzes Geflecht von Gesichtsmuskeln geriet in Bewegung, spannte sich zum Ausdruck der Freude, ihn zu sehen, trieb seinen eigenen hilflosen Mund zur einfältigen Antwort. Miss Alexanders Grinsen brachte einen Schwarm Silberfische in seinem Inneren zum Aufruhr. Muskeln, die er aus keinem Anatomie-buch kannte, zuckten schlimmer als die des Toten auf dem Seziertisch, belebt von dem voltaschen Scherz, dessen die Anatomiestudenten über-all auf der Welt nie überdrüssig wurden.
    Jahre des Medizinstudiums, und doch hätte er den Zustand nicht beschreiben können, in den er geraten war. Von jetzt an dachte er an ihren Brustkorb, wenn er den anderer abklopfte. Die Rundung ihres Schulterblatts hätte ein Bildhauer dreißig Jahre lang formen, schleifen und polieren können und hätte ihre Vollkommenheit doch nicht erreicht. Der Dornfortsatz ihres sechsten Halswirbels war wie eine Knospe, aus der ein Flügelpaar wachsen würde. Bei jedem Atemzug dieser Frau schmeckte William Himbeergeist, obwohl sie schwor, dass sie nie einen Tropfen anrühre.
    Sie war von einem Lichterkranz umgeben, selbst im alexanderschen Wohnzimmer, wo die beiden saßen, im Dunkeln, denn Netties Vater hatte die Lampen gelöscht – eine Sparmaßnahme, die ihm half, sich von Monat zu ärmlichem Monat weiterzuhangeln. Ihre Augen ließen William an Glühwürmchen denken, an schimmernde Tiefseefische, die schon so lange im Dunkel lebten, dass sie sich ihre eigenen Lampen gebaut hatten, bei deren Licht sie das Lebensnotwendige fischten. Der Doktor fand ihr Glühen unergründlich, und was sie zum Glühen brachte, wusste er nicht.
    Aber auch bei Tage war Nettie hell. Manchmal machte ihre helle Haut ihm Angst. Er war beklommen, es brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er spürte, wie Leute sich umdrehten und ihnen nachsahen – Die zwei? Ein Paar?–, wenn sie zusammen ausgingen. Er glich ihre Hautfarbe mit Gelehrsamkeit aus, und jeder Besuch bei ihr entwickelte sich zum aka-demischen Vortrag. Der Gedanke, seine eigene Doppelnatur mit einer zweiten Zwiegestalt zu vereinen, schreckte ihn. Er redete sich ein, dass ein gelblicher Ton nicht das Geringste zu bedeuten habe. Redete sich ein, dass es nicht auf den Hautton ankomme, sondern auf die Nuancen der Seele. Die Frau war hellhäutig, das war nicht zu leugnen, aber das kam von dem Licht, das sie in sich trug.
    Er verwirrte ihn, dieser Goldton. Ob es ihre Hautfarbe war, ihr welliges Haar, ihre Haltung, ihre Rundungen, ihr Gang, oder ob es etwas Sub-tileres, weniger Greifbares war – Nettie Ellen war die eine, die für William aus der Menge herausstach, die Krone, auch wenn er erst begriff, dass er nach ihr gesucht

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