Der Klang der Zeit
anders war; eine Freundschaft, die verkümmert, sobald man sich nicht mehr sieht. Er lachte über ihre Pseudo–Hipstersprüche. Aber er wusste besser als jeder andere, dass sein Stimm-bruch bevorstand. Die ersten Guerillaangriffe der Pubertät hatte er klar und ungebrochen überstanden, und nichts deutete auf die kommende Katastrophe hin. Aber unablässig dachte er an den Tag, an dem es mit seiner Stimme zu Ende sein würde. Er ging nicht mehr in die Sonne, trieb keinen Sport, aß nur noch Birnen und Haferflocken und auch davon nur wenig, ließ sich jeden Tag neue Gegenmittel einfallen in dem verzweifelten Versuch, das Unaufhaltsame aufzuhalten.
Einmal riss er mich mitten in der Nacht aus tiefem Schlaf. In meiner Verwirrung dachte ich, es sei jemand gestorben.
»Joey, wach auf«, flüsterte er leise, damit Earl und Thad nicht erwachten. Er schüttelte mich an der Schulter, bis ich die Augen aufschlug. Etwas Entsetzliches musste geschehen sein. »Joey, kannst du dir das vorstellen? Aus meinen Eiern wachsen Härchen. Ich kann sie fühlen, zwei Stück!«
Er führte mich ins Bad und zeigte mir die Entwicklung. Eher als an die Haare erinnere ich mich an sein Entsetzen. »Es ist soweit, Joey.« Seine Stimme war heiser, belegt. Nur diese paar Augenblicke blieben ihm noch, seine letzten klaren Worte, bevor er sich zum Werwolf wandelte.
»Du könntest sie ausrupfen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das hilft nichts. Ich habe davon gelesen.
Dann wachsen sie nur noch schneller.« Er sah mich an, mit flehendem Blick. »Wer weiß, wie wenige Tage mir noch bleiben?«
Wir kannten beide die Wahrheit. Darüber, wie eine Knabenstimme nach dem Stimmbruch klingen würde, konnte man so gut wie nichts voraussagen. Aus der prachtvollsten Raupe schlüpfte eine Motte. Die größten Tenöre hatten mit einem hoffnungslosen Krächzen begonnen. Aber aus manch vollendetem Knabensopran war nichts als Mittelmaß geworden. Nach János Reményis umstrittener Methode sangen die Jungen unter fachkundiger Anleitung auch durch den Stimmbruch weiter, bis die Stimme ihre endgültige Gestalt gefunden hatte. Ich versuchte ihm Mut zu machen. »Sie behalten dich noch für mindestens ein Jahr, ganz egal was passiert.«
Jonah schüttelte nur den Kopf, wie ein Verurteilter. Mit weniger als Vollkommenheit wollte er nicht leben.
Tag für Tag fragte ich ihn mit Blicken, und Tag für Tag antwortete er mit einem resignierten Schulterzucken. Er sang weiter, erreichte den Höhepunkt seiner Kunst, als die Flamme schon zu verlöschen begann. Jeden Lehrer konnte man seufzen hören, wenn Jonah sang, denn alle wussten, dass das Ende nahe war.
Das Ende kam beim Berkshire-Festival. Serge Koussevitzky war einige Jahre zuvor gestorben, und ein lebenslanger Freund des Dirigenten lud nun die Boylston-Akademie zur Teilnahme an einem großen Gedenk-konzert ein. Zu Ehren des verstorbenen Vorkämpfers für die Neue Musik ließ Reményi uns einige Auszüge aus Orffs Carmina Burana einüben. Damals, in einem Klima der Schauprozesse, hätte er dafür, dass er seine Schüler die lasterhaften Lieder mittelalterlicher Mönche singen ließ, deportiert werden können. Aber Boylston war schon seit Jahren eine Bastion der orffschen Lehrmethoden. Und niemand, fand Reményi, konnte Orffs Hymnen an Fortuna besser singen als diejenigen, deren Schicksal eben erst begann. Er heuerte einige Musiker aus Harvard sowie ein paar Erwachsenenstimmen an, und auf ging es nach Tangle-wood.
Ich schaffte die Aufnahme in den Chor. Wahrscheinlich nahmen sie mich, um Jonah bei Laune zu halten. Reményis Besetzung war ein Meisterstück. Den trunkenen Abt der Kukanier gab er an Earl Huber, der ihn mit der Großspurigkeit eines Baseballspielers sang, der sich zum Beatpoeten berufen fühlt. Das Lied von dem Mädchen im engen, roten Kleid, das wie eine Rosenblüte ist, ging an Suzanne Palter aus der siebten Klasse; sie kam aus Batesville, Virginia, und hatte immer eine Bibel unter dem Kopfkissen, damit sie sie abends, wenn die Lichter aus waren, küssen konnte. Latein war Latein, und Suzanne sang ihre scham-lose Verführung mit solch ahnungsloser Reinheit, dass selbst Reményi rote Ohren bekam.
Für Jonah hatte János die klaren Linien von »In trutina« ausgewählt, jene Summa unentschlossenen Zweifels:
In trutina mentis dubia Auf des Herzens unentschiedner
fluctuant contraria Waage schwanken widerstreitend
lascivus amor et
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