Der Klang der Zeit
hatte, als sie strahlend vor ihm stand, fast in Reichweite seiner bebenden Hände.
Doch Monat um Monat schreckten diese Hände zurück, wagten es nicht, etwas so Wunderbares wirklich zu fassen. Was, wenn er es falsch verstand? Was, wenn das Licht seiner Liebsten auf jeden strahlte und nicht nur auf ihn? Was, wenn die Wärme, die Nettie ihn spüren ließ, eher Spott war als Begehren ? Die Saat des Glückes, die sie in ihm aufkeimen ließ, hätte Beweis genug sein sollen. Aber andererseits durchbohrte diese Jägerin doch jedes wehrlose Wild mit den Pfeilen ihrer Augen.
In ihrer Nähe war William ernsthaft wie nie. Er verehrte sie mit einer Andacht, die fast schon etwas von Trauer hatte. Denn Würde, stellte er sich vor, war das eine, was er ihr bieten konnte und woran kein anderer Mann dachte. Er allein in ganz Philadelphia konnte den Wert dieser Frau ermessen, den Preis dieser seltenen Perle. Seine Besuche waren wie Gottesdienste, sein Gesicht vor Verehrung starr.
Nettie kam der Mann wie eine finstere Regenwolke vor, nur ohne Donner und Blitz. Sie durchlitt eine vier Monate währende Werbung, die so steril war wie ein Sprechzimmer. Er schleppte sie zu Vorträgen, in Museen, und stets fügte er seinen eigenen erbaulichen Kommentar hinzu. Er ging mit ihr spazieren, jeden Zoll des Fairmont Parks, beide Flussufer, fesselte sie mit guten Vorsätzen, bis sie bettelte, dass sie Karten spielten, und sich rächte, indem sie immer häufiger gewann.
Aber für William war die Herzdame eine Königin. Er fand Würde selbst in der Art, wie sie sich mit wieherndem Gelächter einen Slap-stickfilm ansah. Er beschrieb ihr seine Praxis, die Arbeit, die er jetzt tat und die er zu tun hoffte, schwärmte von der gesünderen Zukunft, die die moderne Medizin den leidgeprüften Bewohnern von Southwark und Society Hill bringen konnte, wenn nur die Armen und Unwissenden ihre Furcht davor überwanden und ihr die Türen öffneten.
Anbetung braucht einen Tempel, und Williams Tempel war das Wohnzimmer von Netties Eltern. Es war ein Raum, der nur so überquoll von Chintz und Kristallschalen und Ohrensesseln, die so flächendeckend mit Schondeckchen belegt waren, dass William schließlich den Wink verstand und nicht mehr ganz so viel Pomade benutzte. Wenn er kam, verschwanden Netties Eltern in den hinteren Bereichen des Hauses, und nur ein kleiner Bruder blieb als Anstandshüter zurück, von dem William sich mit Bonbons und Lakritz freikaufte. Dann wurde der Raum zu ihrer Bühne, ihrem Vortragssaal, ihrem spirituellen Oldsmobile, William hielt seine feierlichen Reden, und Nettie grinste dazu, als verstünde sie, was der Mann sagte.
Eines Abends hielt er einen Vortrag über Dr. James Herricks kürzlich erschienene klinische Beschreibung der Sichelzellenanämie – auch wieder eine Plage, unter der Schwarze besonders zu leiden hatten –, als Nettie sich schließlich über das Backgammonbrett lehnte, das als einzige Barriere zwischen ihnen stand, und den guten Doktor fragte: »Willst du mich denn überhaupt nicht in den Arm nehmen?« Es war ein einfacher, praktischer Gedanke; der Abend war kalt, Netties Eltern sparten Kohle. Wozu sollte denn ein Verehrer gut sein, wenn er einen nicht einmal warm hielt?
Der Doktor hatte mitten im Satz innegehalten, er hing in der Luft, sein Mund so rund wie der Opal an seiner Krawattennadel. William Daley, Erbauungsprediger, war vor Verblüffung starr. So musste denn die Frau übernehmen und tat, was getan werden musste, sie lehnte sich noch weiter vor und drückte das M ihrer Oberlippe auf das erstarrte O.
Nachdem Nettie dem Burschen erst einmal klargemacht hatte, worum es ging, wurde aus dem gemessenen Schritt seiner Werbung ein strammer Galopp. Dr. William Daley und Nettie Ellen Alexander heirateten noch im selben Jahr. Danach war die Last der Vorträge gleichmäßiger zwischen ihnen verteilt. Sie befeuerte seinen Redefluss mit gezielten Fragen. Die Tiefe und Bandbreite ihres Wissens erstaunte den Doktor immer wieder neu.
Jetzt wo er ihn an Land gezogen hatte, war William stolzer denn je auf seinen Fang. Die frisch gebackene Ehefrau richtete das Haus in der Catherine Street her, ein Haus mit einem massiven Turm mit Erkerfenstern, und machte sich zum Mittelpunkt des Haushalts, ein Muster an Tüchtigkeit. Um die Zeit, als der Krieg in Europa zu Ende ging, übernahm sie die Buchführung. Und nicht minder tüchtig machte sie sich daran, den Haushalt zu erweitern. Ihren prachtvollen Erstgeborenen James verlor sie,
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