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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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dass sie sich niemals davon befreien können. Sie sagen, er arbeitet nicht einfach weiter an den Problemen, die sie ihm vorlegen. Er springt in die Zukunft und sieht dort die Lösung. Von da arbeitete er sich zurück ins Hier und Jetzt.
    »Du könntest ein Vermögen verdienen«, sagen sie ihm.
    »Ha! Wenn ich Botschaften aus der Zukunft empfangen könnte, wäre Geld das Letzte, womit ich meine Zeit vergeuden würde!«
    Mama sagt, er kann nur die Probleme seiner Kollegen lösen, nicht seine eigenen. »Ach, Lieber! Die, die dir wichtig sind, die kannst du nicht knacken. Oder sind dir am Ende nur die wichtig, die du nicht knacken kannst?«
    Und nie ist er auf die Idee gekommen, sich einmal Gedanken zu machen, was die Zeit mit uns anstellt, mit unserer Familie. In seinem Arbeitszimmer ringt er mit dem Versuch, die Zeit abzuschaffen. Aber die Welt wird uns allen fünfen vorher den Hals umdrehen, wenn sie nur irgend kann. Seine Partitur aus Formeln quält ihn mehr als jede Beleidigung, die er je erleiden musste. Er studiert seinen Stapel Notizen, wie er die Briefe studiert, die aus Europa kommen, die endlosen, nie antwortenden Antworten auf die offenen Fragen, die er immer wieder neu stellt und neu verschickt, Jahr für Jahr an immer andere Auslandsadressen. Er hat seine ganze Familie verloren. Mutter, Vater, seine Schwester Hannah, ihren Mann, der nicht einmal Jude war. Niemand kann Pa sagen, ob sie noch am Leben sind. Keiner will derjenige sein, der ihm sagt, dass sie tot sind.
    Mama sagt, sie hätten uns längst gefunden. Wenn die deutschen Behörden, an die er schreibt, nicht wissen, wo sie sind, dann ist das eindeutig genug. Aber Pa sagt: »Wovon wir nicht sprechen können, darüber müssen wir schweigen.« Und mehr sagt er nicht.
    In Europa, erzählt er mir, laufen Pferderennen verkehrt herum. Zuerst zahlt man seinen Gewinn ein, stelle ich mir vor, dann wartet man, bis die Pferde am Start angekommen sind, und ist gespannt, wie hoch der Einsatz wird. Der Gedanke macht mir Spaß: Jonah und ich mit ihm drüben in Europa, bevor er überhaupt her nach Amerika gekommen ist und Mama kennen gelernt hat. Da würde sie Augen machen. Ich muss lachen bei dem Gedanken, dass wir all die verloren gegangenen Verwandten von Pa kennen lernen könnten, und sie uns, noch bevor wir überhaupt geboren sind, bevor sie alle da endeten, wo, wenn wir Mama glauben, sie mit Sicherheit enden mussten.
    Aber diese Art Sicherheit ist für die Antworten, die er braucht, nicht genug. Ein weiterer Brief kommt, in dem nichts drinsteht außer bürokratischen Floskeln. Er schüttelt den Kopf, dann setzt er sich hin und schreibt eine weitere hoffnungslose Anfrage. »Die Heimat von Heisenberg«, sagt er. »Von Schrödingers Katze.« Im selben Arbeitszimmer erklärt er mir ein Jahr darauf: »Es gibt keinen Zugang zur Vergangenheit. All unsere Vergangenheit steckt in der Gegenwart. Wir haben nichts als Aufzeichnungen. Die Grundlage für die Historiker der nächsten Generation.«
    Er hält den Kopfschief, wenn er die Bilder betrachtet, die er gezeichnet hat, diejenigen, mit denen er die Zeit abschaffen will. Er sucht nach Fehlern in dem Beweis, den er, wie er fürchtet, eben erbracht hat. Er murmelt etwas von Poincare, vom Theorem der Wiederkehr, von einem isolierten System, das in ewig gleichen Wiederholungen immer wieder in seinen Ursprungszustand zurückkehrt. Er spricht von Everett und Wheeler, davon, wie das ganze Universum sich mit jedem Akt des Betrachtens in Kopien seiner selbst aufspaltet. Manchmal vergisst er, dass ich da bin. Fünf Jahre darauf sitzt er noch genauso an seinem Tisch. Ich bin inzwischen auf dem College. Mama hat ihren Staubsauger für alle Zeiten abgestellt, sie wird nie wieder sauber machen. Ich stehe hinter Pa, massiere ihm die gebeugten Schultern. Er summt gedankenverloren, ein Zeichen der Dankbarkeit, doch in Moll. Den Zahlen nach zu urteilen existiert die Zeit vielleicht doch. Er ist sich nicht sicher. Schon gar nicht, ob das ein Grund zur Freude wäre.
    Seine Gedanken geraten immer weiter in Unordnung, er unterscheidet nicht mehr zwischen Unsinn und Tiefsinn. Sein Universum zieht sich zusammen, die Zeit läuft rückwärts, so lange bis es an einem Jüngsten Tag ganz in sich zusammenstürzt. Die Gravitationstheorie birgt Geheimnisse, die selbst ihr Entdecker sich nicht hätte träumen lassen. Geheimnisse, die andere noch auf Jahre hinaus nicht ergründen werden. Er aber sieht sie voraus. Er skizziert die Quantengravitation, so

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